Boccaccio
noch
der bewegliche, kecke und witzige Geist des geborenen
Florentiners mangeln, den man nicht lernen kann.
Denn wohl haben in späteren Zeiten auch manche
weichliche Neapolitaner, leichtsinnige Mailänder, trä-
ge Venetianer und plumpe Sienesen hübsche Novellen
geschrieben; allein diese alle hatten den Boccaccio zum
Lehrmeister, welcher der Vater und Urheber dieser
Kunst gewesen ist.
Wenn man nun bedenkt, in welcher Zeit das Buch
Dekameron verfaßt wurde, so begrei man leicht, wes-
halb die Stadt Florenz seine Heimat sein mußte. Diese
reiche und prächtige Stadt, welche auch heute noch
eine der schönsten auf Erden ist, befand sich eben zu
jener Zeit zwar in mancherlei Kämpfen und politischen
Nöten, jedoch begann sie schon sichtbar nach jener un-
vergleichlichen Blüte hinzustreben, welche sie hundert
Jahre später erreichte. So erfreute sie sich einer emsigen
und glücklichen Tätigkeit auf allen Gebieten und nahm
nicht weniger im Handel als in den Künsten täglich an
Ruhm und Glücke zu, während das mächtige Rom
kläglich darnieder lag, indem der Papst samt seinem
ganzen Hoalte sich nach Avignon in der Provence
verzogen hatte. Es war von Florenz sowohl der be-
Florenz zur Zeit Boccaccios
rühmte Petrarca als der große Dichter Dante gebürtig,
obwohl dieser in der Verbannung gestorben war, wie
denn auch infolge beständiger Bürgerkriege des Pe-
trarca Familie vertrieben war und in Arezzo lebte. Und
was die Florentiner an jenem göttlichen Dichter gesün-
digt hatten, suchten sie desto eifriger zu sühnen, indem
sie damals und noch lange nachher eine große Zahl von
Gelehrten, Dichtern, Künstlern und anderen Männern
beherbergten, deren Ruhm ihrer Stadt zur Ehre ge-
reichte und sie gewürdigt hat, bis auf diesen Tag die
eigentliche Geburtsstätte des Rinascimento zu heißen.
Zugleich unterhielten die Kaufleute einen großen Ver-
kehr nach allen Ländern der Welt, und es lebten viele
Florentiner Bürger als Händler und Geldwechsler in
Rom, Neapel, Mailand, Paris, Byzanz, London, Flan-
dern, auf Sizilien, Malta, Kreta, Cypern und ander-
wärts, von wo nicht nur Geld und Wohlstand, sondern
auch mannigfaltige Nachricht und Kunde fremder Ge-
genden, Sitten und Begebenheiten täglich in die Stadt
kamen.
Aus einer so beschaffenen Zeit und Stadt entstammte
also der Verfasser des Dekameron . Aber dennoch ist er
nicht in Florenz oder in dem benachbarten Certaldo,
von wo sein Geschlecht herkam, geboren. Vielmehr
fügte es das Schicksal, das ja stets der größte Dichter
gewesen ist, daß das Leben dieses weitbekannten No-
vellenerzählers in einiger Dunkelheit und nicht anders
als eine Abenteuernovelle begann.
Höret denn, Ihr lieben Herren und Damen, das we-
nige, was man vom Leben dieses herrlichen Dichters
heute noch weiß, denn leider ist es lange nicht so viel,
als man wünschen möchte!
Aus dem Städtchen Certaldo im Elsatal gebürtig,
lebte zu Florenz ein Kaufmann namens Boccaccio. Er
war ein fleißiger und kluger, allein auch geldgieriger
und leichtfertiger Mensch, welcher zahlreiche Han-
delsreisen teils für fremde, teils für eigene Rechnung
unternahm, wobei er ebensosehr für seinen Vorteil wie
für sein Vergnügen zu sorgen verstand, jedoch nach
Art der Kaufleute auch öeren Zufällen und Glücks-
wechseln ausgesetzt war. Längere Zeit war er an dem
großen Bankgeschäe des altberühmten Hauses der
Bardi beteiligt, welches auch in Paris, wie in anderen
Städten, eine Filiale besaß und hohes Ansehen genoß.
Diesem Pariser Hause hat unser Kaufmann eine Zeit-
lang vorgestanden, und wenn er dabei sich als ein
tüchtiger Handelsmann erwies, so ließ er doch in dieser
großen und üppigen Hauptstadt auch sein Vergnügen
nicht außer Augen.
Wenigstens sah er daselbst eines Tages eine junge und
sehr hübsche Witwe, welche ihm überaus wohlgefiel
und deren Gunst er sogleich zu erwerben sich be-
mühte. Dies tat er denn auch, als ein gewiegter Mann,
auf jede Weise, indem er sich für einen Edelmann aus-
gab, was ihm bei seiner hübschen Gestalt sehr wohl
gelang. Er spielte den Feinen und trat nicht anders auf,
als wenn er der Sohn des vornehmsten Hauses gewesen
wäre, obwohl er im Grunde wenig mehr als ein bäue-
risch gebildeter Geldwechsler war. Bald hatte er die
Augen der schönen Witwe auf sich gelenkt und sie sei-
nen ehrerbietigen Bitten zugänglich gemacht, und da
er ihr mit
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