Boccaccio
Leiden und die Wollust der
Frauenliebe als der Zauber des Reisens und Schauens,
die Erlebnisse und Sitten der Studenten ebenso wie die
Sorgen und Plagen der Kaufleute, die Gebräuche, Tu-
genden und Laster derer, die bei Hofe und die in der
Wechselbank und die auf den Märkten oder zu Schiffe
leben und ihr Brot zu erwerben suchen, die Eigenschaf-
ten der Narren wie der Weisen, die Lebensart der Prie-
ster, der Richter, der Soldaten, der Seefahrer, der
Frauen, der Dirnen sowie alles Ernste, Schöne, Selt-
same, Lächerliche und Traurige des menschlichen Le-
bens, soweit nur jemals ein Mensch es erfahren und
beobachtet hat – dieses alles zog er nun aus seinem Ge-
dächtnisse hervor.
Gewißlich sind von den hundert Erzählungen des
Buches Dekameron nur sehr wenige von Boccaccio
selbst erfunden worden. Vielmehr hatte er die einen
erzählen hören, die anderen selbst erlebt oder sich zu-
tragen sehen, andere auch aus alten Sagen und Liedern
und Fabeln genommen. Nur ein Tor möchte wün-
schen, er hätte sie alle selbst sich ausgedacht. Im Ge-
genteil ist es einer der größten Vorzüge des Dekameron ,
daß es gleich einem Speicher oder Juwelenschrank die
Erfahrungen und Schicksale unzähliger Menschen und
Zeiten in sich beschlossen hält. Viele von den Ge-
schichten kamen aus dem Morgenlande, aus Griechen-
land und aus Frankreich, Spanien und Germanien her,
viele sind schon sehr alt gewesen, andere wieder erst
von gestern. Daß aber ein einzelner Mann diese zahllo-
sen kleinen Stücke in seinem Gedächtnis gesammelt,
alsdann geordnet und verbessert und am Ende zu ei-
nem großen, wundervollen Ganzen zusammengesetzt
hat, dazu in einer von ihm selbst geschaffenen, voll-
kommenen Sprache – und das Ganze so ebenmäßig,
rein und klar und in sich selber einig, als wäre alles am
selben Tag und aus demselben Geist entstanden – dieses
ist, so o man es auch betrachte, ein fast unbegreif-
liches Wunder. Begebenheiten und Lehren, Spaße und
weise Erfahrungen, die eine uralt, die andere frisch von
der Gasse, die eine von Hofe, die andre aus dem Bettel-
volk, die eine arabischen, die andre deutschen, die
dritte französischen Ursprungs, lustige und klägliche,
edle und gemeine, diese alle zusammen zu einem ein-
zigen prächtigen Werk vereinigt, aneinander gefügt
und wie die Steine eines Geschmeides jede die Nachba-
rin hebend und verzierend, und dennoch jede einzelne
bis in die geringsten Teile mit aller Kunst und Sorgfalt
ausgebaut und zur Vollkommenheit gebracht! Wahr-
lich, wenn Boccaccio in seinem Leben eine große Tor-
heit und Sünde begangen hat, so war es, als er sein
unsterbliches Werk selber als eine müßige und leicht-
fertige Jugendarbeit und Verirrung verleumdete.
Allerdings genoß er zu seinen Lebzeiten den meisten
Ruhm nicht um der Novellen, sondern um seiner ge-
lehrten Werke willen, von welchen heute nur noch die
Vita di Dante einigen Wert hat. Dennoch zählte er zu den
unterrichtetsten Männern seiner Zeit, und indem er ei-
nen schönen lateinischen Stil schrieb, sich sehr um die
alten Autoren bemühte und auch die damals nur wenig
gepflegte Kenntnis des Griechischen auszubreiten be-
strebt war, hat er ebenso wie Petrarca einen ruhmvol-
len Anteil an der Begründung des italienischen Rinasci-
mento.
Von der Beschaffenheit, Einrichtung und Konstruk-
tion des Dekameron will ich später sprechen. Über
das Schicksal desselben ist wenig zu sagen, als daß
es – unendlichen Anklagen und Verleumdungen zum
Trotze – schon nach kurzer Zeit über mehrere Länder
verbreitet war, auch seither in vielen Übersetzungen
und Hunderten von Ausgaben immer wieder gedruckt
worden ist. Unglücklicherweise ist keine Handschri
der Novellen von der eigenen Hand des Boccaccio er-
halten geblieben, und lange Zeit wurde mit dem Texte
so nach Willkür umgesprungen, daß es erst später flei-
ßigen Gelehrten gelang, ihn so ziemlich wieder auf den
Status quo ante zu bringen.
Das Dekameron hat häufige Wiedergeburten im
Geiste anderer großer Dichter und Künstler gefeiert.
Gleichwie in dem Schauspiel Nathan der Weise die dritte
Novelle, von den drei Ringen, eine neue Gestalt an-
nahm und wieder Tausende erfreute, so haben früher
und später viele andere, vor allem Shakespeare, aus
dem Schatze des Florentiners geschöp, dessen Spuren
in zahlreichen Dichtungen aller Völker zu finden sind.
Nicht weniger haben die
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