Bodin Lacht
das die Oberlippe beschattete; auch der Kragen seines Hemdes führte ein graues Dasein, und ein noch moderater Bierbauch quoll schon über die schmuddeligen Jeans. Sie hätten seine Adresse aus Evelyns Adressbuch und jetzt suchten sie alle ihre Freunde und Klavierschüler auf. Er lieà sie sein Wohnzimmer betreten. Martin gehörte zu den Leuten, die ihre Wohnung ordentlich halten und zu jeder Zeit Eindringlinge empfangen können. Sie haben also Klavierstunden bei Evelyn Gorda gehabt. Der Polizist hatte eine nasale Stimme. Jawohl. Und, fragte die postpubertäre Polizistin, wo steht das Klavier? Ihr Blick schweifte über eine Wand voll Bücher, einen kleinen Schrank, ein weinrotes Zweisitzsofa, ein Tischchen und einen Sessel, mehr konnten die fünfzehn Quadratmeter nicht verkraften. Vielleicht in Ihrem Schlafzimmer? Er musste gestehen, dass er bei seiner Mutter übte, seine Wohnung biete ja keinen Platz für ein Klavier, er überlege, ein leichtes, tragbares Klavier zu kaufen, habe sich noch nicht entschieden, da die Qualität dieser Instrumente natürlich nicht vergleichbar sei mit dem Flügel seiner Mutter. Der Inspektor hörte dieser Ausführung grinsend zu und wollte die Adresse der Frau Mama erfahren. Er sagte tatsächlich »der Frau Mama«, und seine Ironie entzündete sofort ein kleines Hassfeuer in Martin. Er schrieb ihm die Adresse auf einen Zettel. Haha, sagte der Typ, Ihre Frau Mama hat bestimmt eine wunderschöne Aussicht auf den Blausee. Und?, fragte die Frau, waren Sie bei Ihrer Mutter gestern Nachmittag? Er sagte (und kam sich vor, als legte er ein Geständnis ab), dass er in der Tat da gewesen sei, sich am Ufer aufgehalten und sogar einen Knall, vielleicht einen Schuss gehört habe, am späten Nachmittag, fünf Uhr etwa, er trage keine Uhr. Dann sei er zu seiner Mutter gefahren, um ihr einen verletzten Vogel anzuvertrauen. Aha, sagte der Kriminalbeamte, einen verletzten Vogel. Meine Mutter hat einen Teich, erklärte er, und kann mit verletzten Tieren gut umgehen. Hatte der Vogel eine Schusswunde?, fragte die Polizistin. Er erzählte von der Verletzung der Gans und dass er sich zuerst eingebildet hatte, ein Jäger habe sie abgeschossen, meine Mutter, sagte er, kann Ihnen dies alles bezeugen. Ist Evelyn Gorda angeschossen worden? Ich vermute, grinste der Inspektor weiter, Ihre Frau Mama besuchen Sie oft. Martin errötete und sagte, na ja, ab und zu schaue er bei seiner Mutter vorbei. Die Polizistin holte eine Landkarte aus einer Tasche und entfaltete sie. Sie fragte mit kühler Stimme, ob er ihr zeigen könne, welche Strecke er gefahren und gelaufen sei, ob dieser Spaziergang bei ihm einer Gewohnheit entspreche oder eine Premiere gewesen sei. Sie sagte tatsächlich: eine Premiere. Er versuchte, cool zu bleiben und doch spürte er die Weder-Fisch-noch-Fleisch-Stimmung des die Wahrheit sagenden Lügners. Das blöde Grinsen des Mannes ging in die Breite, als Martin noch einmal fragte: Wie ist Evelyn eigentlich zu Tode gekommen? Wissen Sie es wirklich nicht?, fragte der Mann. Sie lehnten die Tasse Tee ab, die er ihnen anbot, und verabschiedeten sich mit einem Grinsen, das er als ein »Wirâsind-nicht-der-Abwarten-und-Tee-Trinken-Typ« interpretierte. Sie würden sicher heute noch oder morgen früh zu seiner Mutter fahren.
Er zögerte, ob er seine Mutter anrufen sollte oder nicht, um sie vor dem Ãberfall zu warnen, und lieà es doch sein, sie konnte sowieso nur seine Aussage bestätigen und ein langes Gespräch mit ihr überstieg jetzt seine Kräfte. Um diese Zeit würde sie ihn in Whiskylaune beschimpfen, da er heute Morgen nicht zur Polizei gegangen war, und ihn auÃerdem über seine erste Sitzung bei Bodin verhören wollen, und, nein, darüber hatte er keine Lust zu berichten. Hoffentlich würden die beiden Polizisten sie erst morgen früh besuchen und sie nüchtern antreffen.
Die Lust auf seine Diplomarbeit war jetzt dahin. Er würde sich nicht mehr konzentrieren können. Von dem Titelblatt der Zeitung sprang das ernste Gesicht von Evelyn Gorda im Konzert, dasselbe Foto, das im Fernsehen gezeigt worden war, und der Titel: »Geheimnisvoller Tod am Blausee. Mord oder Unfall?« Der Artikel gab keine handfesten Informationen. Da man in der Gerichtsmedizin Dienst nach Vorschrift machte, könne man länger warten, bis die genaue Todesursache angegeben werden könne. In der Rubrik
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