Bodin Lacht
Pro und Kontra las er Meinungen über den Dienst nach Vorschrift, der auf einer Seite als »Dienst der beamteten Heuchler« angeprangert, auf der anderen als »kreative Form des Arbeitskampfs« gelobt wurde. Er überflog auch die Rubrik »Veranstaltungen« der Zeitung. Ein Konzert galt als Kulturtipp, Jazz von einer Gruppe, die Evelyn seiner Mutter und ihm schon öfter empfohlen hatte, den Saxofonisten kannte er, Tobias Wildenhain war ein sehr guter Freund oder möglicherweise ein Geliebter von Evelyn gewesen, und er hatte ihn schon ein paar Mal auf der Bühne erlebt. Seine Mutter hatte ihn und sein Orchester vor einigen Jahren zu einem Privatfest eingeladen und war von seinem Talent begeistert gewesen. Das Konzert â das längst in der Monatspresse angekündigt worden war â würde im »Schlösschen Anna« in drei Tagen um zwanzig Uhr stattfinden und hieà auf einmal »Konzert für Evelyn Gorda«. Tobias Wildenhain hatte keine Zeit verloren. Dann erblickte Martin auf Facebook und Twitter viele Meldungen von traurigen Schülern, Zuhörern, Kollegen. Er verbrachte den Abend, sie zu lesen, zu analysieren, sie wie Geheimschriften zu entschlüsseln, in der vagen Hoffnung, etwas Verdächtiges zu finden, das den Mörder verraten würde. Alle diese Mitteilungen waren kitschig oder plump-provokant, oder so brav und pietätvoll wie die Todesanzeigen eines Provinzblatts. DrauÃen war es sehr dunkel. Die Stadt hatte aus Spargründen entschieden, nur eine von zwei Lampen anzumachen.
Er würde doch noch über die Anemonenfische schreiben.
FELD 14: IM ZEICHEN DES SAXOFONS
Die Musik ist schon darum der beste Trost, weil sie nicht neue Worte macht. Selbst wenn sie zu Worten gesetzt ist, überwiegt ihre eigene Magie und löscht die Gefahr der Worte.
E LIAS C ANETTI,
Die Provinz der Menschen
Evelyns Tod hatte eine erbauliche Seite, dachte die Polizistin, der Tod führte sie in ein Musikermilieu, das sie nicht kannte und gern entdecken würde. Nur mit einigen suspekten Personen aus der Rap- und Rockszene hatte sie am Anfang ihrer Laufbahn wegen Drogengeschichten zu tun gehabt. Aber mit den etablierten Jazz- und Klassikmusikern der Stadt hatte sie noch keinen Kontakt. Sie hatte Lust, diese Spezies besser kennenzulernen, die mit ihren Veranstaltungen die Spalten der Lokalseiten öfter füllte und mit ihren Namen Evelyns Adressbuch. Sie hatte vielleicht sogar Lust, ihre Musik zu hören, und ging auch deshalb zum Konzert von Tobias Wildenhain, der heute für Evelyn Gorda spielte und sich damit doppelt so viel Publikum sicherte, denn wenn die einen sowieso für seine Musik gekommen wären, wurden viele von einer Art Event zu Evelyn Gordas Ehren angezogen. Liliane amüsierte der sehr abwegige Gedanke, Tobias hätte Evelyn ermordet, um in memoriam heute aufzutreten, um den Gewinn der zwei oder drei Konzerte, die in ihrem Terminkalender noch standen, einzuheimsen. Lauter Konzerte in memoriam. Natürlich war dies nur ein abstruses Gedankenspiel, doch sollte man alle Kollegen, mit denen sie eng zu tun gehabt hatte, unter die Lupe nehmen. Tobias und andere befragte Musiker hatten allerdings behauptet, sie hätten Evelyn schon seit Längerem nicht getroffen und nichts über ihre heutigen Bekanntschaften gewusst. Da sie meistens solo spielte, hätten sich ihre Beziehungen in der letzten Zeit abgekühlt.
Das Konzert hatte schon begonnen, als sie ankam. Der Saal war gerammelt voll, aber sie durfte für den vollen Preis in einer Ecke stehen. Eine Bühne war in dem vornehmen Empfangssalon einer Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert installiert worden, dem Schlösschen Anna. Von hinten sah sie viele Hälse, die sich rhythmisch nach vorne bewegten wie Hühner, die nach Körnern pickten, andere bewegten den Kopf in kleinen Stakkato-Bewegungen von rechts nach links und viele schlugen den Rhythmus mit dem FuÃ. Das Publikum ging mit der Musik mit. Ob sie, Liliane, mit ihrer Steifheit auffiel? Sie probierte auch, den Kopf rhythmisch zu bewegen und klatschte mit, als Tobias Wildenhain ein Solo spielte (sie merkte erst, dass er ein Solo gespielt hatte, als alle klatschten). Auf der Bühne saÃen und standen drei weitere Musiker: Ein Cembalist, dessen Oberkörper und Arme kräftig agierten, das Instrument konnte sie nur schlecht sehen, diese Art der Bewegung und des Klopfens und Streichens auf den Tasten erinnerte an den
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