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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Angelegenheit Beerdigung geheftet hatte, ihre kurze Berührung seiner Hand als Zugeständnis an seinen Kummer, ihre verhärteten Züge, der scharfe Blick, den sie auf die sich bekreuzigenden Menschen warf, als müsste sie jetzt eine Bande von Heuchlern und Mördern entlarven, ach, seine vertrackte Mutter, die jeden Morgen beim Aufstehen sorgfältig ein Schloss nach dem anderen in sich verriegelte, so wie sie sich wusch, kämmte, schminkte, und sich so verschlossen wie aufgetakelt dem Blick ihres Nächsten bot. Er erwartete Erlösung vom See, vom glitzernden Horizont, von einer trockenen Wiese, wo noch die fahle Farbe der verwelkten Grasnelken im Wind wehte, er ließ sein Rad liegen, lauschte quakenden Enten, befühlte das Wasser, schätzte die Temperatur auf maximal fünfzehn Grad, vielleicht weniger, zögerte nur kurz, bevor er sich auszog und zitternd hineinging. Die Kälte biss ihm immer höher in die Waden, in die Schenkel, in den Bauch, sie kroch in den ganzen Leib, die Folter musste schnell ein Ende nehmen, er klatschte sich heftig Wasser auf die Schultern, bevor er endlich ins Wasser glitt. Dann schloss sich der See um seine Haut, eine unsäglich kalte Umarmung, die ihm den Atem nahm, und er stieß einen Schrei aus, einen Schrei, um die Grausamkeit der Kälte und des Mordes und des ganzen Lebens zu bändigen, und, weil es guttat, schrie er auch weiter und weiter wie ein Wahnsinniger, bis er beim Kraulen Wasser schluckte und würgen musste. Als er zum Ufer zurückschwamm, fasste er erleichtert Fuß auf dem im Vergleich zum tiefen Wasser lauen Schlamm des Seebodens, schritt heraus und erschrak.
    Hallo, sagte eine dunkle weibliche Stimme. Sie sind ganz schön verrückt.
    Seine erste Reaktion war es, das Badetuch aufzuheben und schützend vor sich zu halten, ohne die Person, die da stand, wahrzunehmen. Nur ihren schrägen Blick nahm er wahr, einen ironischen Blick, der sicherlich seiner auf null geschrumpften Männlichkeit galt. Nehmen Sie sich Zeit, sagte sie (als hätten sie einen Termin vereinbart, als verfügte sie sowieso über seine Zeit), trocknen Sie sich ruhig ab, ziehen Sie schnell etwas Warmes an (als wäre sie für seine Gesundheit zuständig), ich warte dort. Sie zeigte auf sein Fahrrad. Liliane Hoffmann lächelte freundlich und drehte sich um. Ihr Haar war von der Feuchtigkeit der Luft gekräuselt. Sie trug schlecht sitzende schwarze Jeans, deren zu lange Beine sie über den Knöcheln hochgerollt hatte.
    Er trocknete sich sorgfältig ab und zog sich nur langsam an. Ich wollte mir, erzählte sie, noch einmal den Tatort ansehen, und dann dachte ich, einen Schrei gehört zu haben und bin hierher gerannt. Falls Sie nicht jemand anderen ermordet haben, kam der Schrei aus Ihrem Mund, oder?
    Ich habe noch nie jemanden ermordet, sagte Martin. Sie sind heute allein gekommen?
    Ihm wurde immer noch nicht wärmer, er klapperte hilflos mit den Zähnen. Sollen wir ein Stück laufen?, schlug sie vor, Sie haben ja blaue Lippen! Sie kehrten zum Weg zurück und joggten in der Tat gut eine Viertelstunde ohne ein Wort. Auf dem Rückweg nahm sie den Dialog wieder auf, ohne zu keuchen; sie schien verdammt gut in Form zu sein. Besser? Aufgetaut? Waren Sie das mit dem Schrei? Ja, sagte er verlegen, wer sonst? Haben Sie am Tatort etwas Neues entdeckt? Sie antwortete mit einer Frage: Schwimmen Sie oft in diesem See? Und zu jeder Jahreszeit? Ja, schon seit meiner Kindheit, nicht bei Frost, sonst ja. Meine Mutter hat mir hier das Schwimmen beigebracht. Sind Sie da auch mit Evelyn Gorda geschwommen? Nein, sagte er, nein, Evelyn ging nach meiner Klavierstunde weg. Oder, falls sie Zeit hatte, unterhielt sie sich noch ein bisschen mit uns oder mit meiner Mutter. Meine Mutter ist über ihren Tod erschüttert. Und Sie, sind Sie erschüttert? Ja, natürlich bin ich das. Begleiten Sie mich bis zu meinem Wagen?, fragte Liliane Hoffmann. Er lief neben ihr und beobachtete die kleinen Narben auf ihrem dreieckigen Gesicht (frühere Akne, Windpocken?), ein Gesicht, das nicht gerade schön, aber doch nett war, ein herzförmiges Gesicht mit einem tiefen Haaransatz. Ein hüpfender Pferdeschwanz. Sie drehte sich zu ihm: Waren Sie verliebt in sie? Er dachte nach, und sie merkte leicht spöttisch: Sie müssen darüber nachdenken? Und er: Ja, das muss ich. Ich kann das Gefühl nicht benennen, das ich für Evelyn empfand. Es war

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