Bodin Lacht
21: DIE PARTITUR DER MENSCHEN
Eine Partitur (ital. partitura »Einteilung«) ist eine untereinander angeordnete Zusammenstellung aller Einzelstimmen einer Komposition oder eines Arrangements, so dass der Dirigent das musikalische Geschehen auf einen Blick überschauen kann.
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Zu Otta, die ohne einen Quack ihre Runde drehte: Jemand fragte mich, wohin die Sonne verschwunden war. In den Garten, antwortete ich, die hat sich in den Schatten des Baumes gelegt. Dann kam mein Vater mit einem dicken, ledernen Koffer von früher an. Sauer, dass niemand ihn am Bahnhof empfangen hatte, er fror jämmerlich und ich versuchte, ihn mit einem Teller heiÃer Suppe zu versöhnen. Seine Nase tropfte in den Teller. Er bekreuzigte sich, bevor er die Suppe löffelte. Der Himmel wurde dunkel und schluckte auch meinen Vater. Diese Schwärze bestand aus Menschen, die in dunklen Verhüllungen dicht aneinandergeklammert erstarrt waren. Der Himmel war voll Solidarität, spürte ich, die Solidarität der magnetischen Toten, die die Lebenden anzogen. Die Intensität, mit der ich aber versuchte, ihre Umrisse auseinanderzuhalten (ob ich darin meinen Mann oder Evelyn erkennen könnte?), war so anstrengend, dass ich aufwachen musste. Auch das Thermometer zeigte einen rapiden Abstieg im Vergleich zu gestern. Ja, Otta, wir drehen uns im Kreis.
Paula schaute, ob Martin nicht vielleicht angeradelt käme. Der Winter war hereingebrochen. Bald würde die ausgedörrte, karge Zeit anrücken, die die Erde mit Kahlheit und Traurigkeit ahndete, bis der Schnee zumindest Feldern und Bäumen eine neue Anmut verleihen würde. Sie mochte diese Zeit nicht. Die Leute wickelten sich in dicke Parkas und Mäntel, und mit den herausragenden Beinen, Armen und Köpfen sahen sie aus wie aus einem Baumstamm gewachsen. Viele trugen dann Schwarz wie verhinderte Nonnen. Aus Vaters Nase lief Weihwasser. Sie war klein, dachte viel Falsches, lebte mit dem Kopf in Bildern und watete im abgesegneten Schlamm der groÃen Leute. Für Mutter endete die Welt am Gartentor, so eng das Tor, so groà die Welt, dass sie gar nicht hineinschlüpfen konnte.
Ob Martin sie heute besuchen käme? Sie hatte ihn letztes Mal so schnippisch drangsaliert (ja, sie sollte weniger trinken!), dass er masochistisch veranlagt sein müsste, wenn er sich so bald blicken lieÃ. Wer weiÃ? Ihr mädchenhafter Sohn war ein Albtraumfänger. Sie sollte ihre Zunge zügeln, ihre Unruhe bei anderen als Martin ausleben, zum Beispiel bei Simone, die eine lederne Haut zu besitzen schien und die es mit ihren schlampigen Putzkünsten auch verdiente, angeschnauzt zu werden, oder sie sollte sich einen Mieter zulegen und tyrannisieren, damit sie, von ihren Aggressionen befreit, zu ihrem Kind freundlicher sein könnte. Martin war ein begnadeter Mensch, ein Mensch ohne Hass. Sie und er waren sich physisch sehr ähnlich, und wenn sie seine Weiblichkeit akzeptieren könnte, wären sie beide glücklicher, könnten dann eine geschwisterliche Komplizenschaft leben, eine Beziehung ohne überzogene Erwartungen. Ach das wusste sie doch zu Genüge, und mit Doktor Bodin hatte sie die Sache durch- und ausdiskutiert. Früher hatte Jürgen ohne Komplexe das Private mit dem Beruflichen vermischt, Freud hätte seine Freude an deinen Träumen!, sagte er, und das schmeichelte ihr. Sie genoss die unentgeltlichen Trauminterpretationen beim Frühstück. Heute schien er das Berufliche dem Persönlichen zu opfern. Wenn sie ihn einlud, allerdings nur noch selten, zitierte er seine Götter Freud und Jung nicht mehr, er erzählte ausführlich von sich, sprach über eigene Frustrationen und Erinnerungen wie jemand, der noch nie von einer Psychotherapie gehört hatte. Uninteressant. Ihr hörte er immer weniger zu. Manchmal gingen sie noch zusammen spazieren, meistens am Blausee, dann stöhnte er wie ein alter Mann beim Hinsetzen und Aufstehen. Er schmatzte und vergaÃ, sich beim Essen den Mund abzuwischen, und unterlieà es, beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten. Und er schaute manchmal mit einem feuchten Hundeblick, den sie nicht vertrug, er wirkte unästhetisch und sie mochte keine unästhetischen Menschen. Ja, sie war ihn rechtzeitig losgeworden.
Simone fragte, ob sie die Wäsche, die seit gestern in der Waschmaschine moderte, aufhängen solle. Ja, sollte sie. Wie geht es Ihrem Studium?, fragte Paula
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