Böse Freundin (German Edition)
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1. Kapitel
Der Anblick eines betagten VW-Käfers holte Djuna Pearson aus der Erinnerung zurück. «Marienkäfer», sagte Djuna Celia ins Ohr, so beiläufig wie eh und je, als wäre diese Stimme nicht zum ersten Mal seit einundzwanzig Jahren wieder zu hören. Um Celia herum verschwamm die Innenstadt von Chicago zu einem Wirbel aus Budapestern und Pumps. Seekrank starrte sie eine glitzernde Folienverpackung an, die auf dem Boden lag. Als Celia die Augen schloss, nahm Djuna hinter ihren Lidern Gestalt an. Sie saßen auf der Rückbank von Mrs. Pearsons Volvo und hielten nach ihrem Lieblingsauto Ausschau. «Marienkäfer», rief Djuna, und beim Klang der vertrauten, lange vergessenen Stimme zerbröckelte eine falsche Mauer, gab den Blick auf ein Labyrinth von Räumen frei, und in jedem einzelnen stand Djuna.
Djuna Pearson war am ersten Tag der fünften Klasse am Pult vor Celia aufgetaucht; der dunkle Pferdeschwanz der Neuen war mit einem Band zusammengehalten, der schmale, von zarten Härchen befiederte Nacken schimmerte wie glasiertes Porzellan. Djuna hatte eine ausgezeichnete Haltung, weshalb Celia beschloss, sie zu hassen. In der zweiten Schulwoche waren sie Freundinnen von einer Intensität, die andere in ihren Bann zog. Ihre drei glühendsten Anhängerinnen waren Josie, Leanne und Becky, die beste Freundin, die Djuna abgelöst hatte. Wo immer sie in Erscheinung traten, waren Djuna und Celia wie eine Party, bei der die anderen unbedingt dabei sein wollten, oder wie ein Verkehrsunfall, der zu spektakulär war, um daran vorbeizugehen.
Die letzten Passanten betraten die Straße, die Fußgängerampel zählte drei, zwei, eins. Celia blieb stehen, und in ihrem Kopf lief, wie ein Amateurfilm, ein lange zurückliegender Schulhofstreit ab.
Es war windig gewesen, und Celia hatte ihre Lieblingsmütze getragen, die mit dem gelben Bommel. Bei jeder Bö bewegte sich der Bommel – ein leises Kitzeln, als hätte sich ein Vogel Celias Kopf ausgesucht, um ein Nest zu bauen. Djuna stand vor Celia, ihre Nasenspitzen nur eine Handbreit voneinander entfernt. Diesmal war die Reihe wohl an Djuna gewesen, sich über irgendetwas aufzuregen, denn ihr Gesicht war so verzerrt, dass ihre aufgesprungene Unterlippe begonnen hatte zu bluten. Sie schrie: «Deine Mütze ist blöd!» Celia hörte die Worte, spürte Djunas kochende Wut, doch viel mehr interessierte sie der Mund ihrer besten Freundin, die straff gespannte, rosige Haut an der geschwungenen Unterseite der Lippe, wo sich der Riss zu einem dunkleren Rot verfärbte. Celia erinnerte sich an den Moment der Stille, an ihre vollkommene innere Ruhe, bevor sie antwortete: «Deine Lippen sind hässlich.» Als wäre das eine Tatsache, die sie sich für eine Klassenarbeit merken müsste. Djuna wirbelte herum, ihr Pferdeschwanz beschrieb in der Luft einen wütenden Bogen. Als sie sich noch einmal zu ihr hindrehte, um «Ich hasse dich!» zu schreien, erstarrten auf dem schwarzen Teer des Schulhofs alle, die Pause stand still, in Ehrfurcht vor einer höheren Gewalt.
Zur Versöhnung tauschten sie Briefchen aus und taten, als wäre nichts gewesen. In den Flauten zwischen den Stürmen spielten sie stundenlang in Djunas Zimmer und stellten sich vor, zu einer riesigen Schar verwaister Schwestern zu gehören. Djuna entwarf auf den Seiten eines Spiralblocks die Kleider – kunstvolle Ensembles aus Petticoats und Spitze, die an Hochzeitstorten erinnerten. Celia zeichnete Köpfe, die hauptsächlich aus Haaren und Augen bestanden. Einer dieser Nachmittage stand ihr plötzlich wieder vor Augen. Sie war zum Abendessen geblieben und konnte sich noch an den Duft aus Mrs. Pearsons Töpfen erinnern, der nach oben gezogen war. Das Restlicht des verdämmernden Tages hatte Djunas Züge in fahles Grau getaucht; sie glich der Statue eines Mädchens, die vorübergehend zum Leben erweckt worden war. Sie saßen auf Djunas Bett und betrachteten eine mit Schwestern bedeckte Seite des Notizblocks; das Paar, das sie beide darstellen sollte, war am schönsten gezeichnet. «Wir werden nie wieder jemandem so nahe sein, wie wir es jetzt einander sind», gelobte Djuna, und Celia stimmte ihr zu, mit der ganzen Gewissheit, die eine Elfjährige aufzubringen vermag. Einundzwanzig Jahre später wurde ihr klar, dass der Satz noch immer galt.
Als die Fußgängerampel wieder umsprang, überquerte Celia die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite blieb sie stehen und sah sich nach der Ecke um, von der sie
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