Böse Freundin (German Edition)
gekommen war. Es war der gleiche Instinkt, der andere dazu trieb, die Schauplätze von Unfällen und Verbrechen mit Holzkreuzen, Fotos und Kerzen zu markieren. Gedenkstätten schufen die Illusion von Mitgefühl. Celia hielt Ausschau nach einem frischen Fleck, einem Riss im Asphalt, doch nichts wies darauf hin, dass sich dort soeben ihr bisheriges Ich verabschiedet hatte.
Der Frühling hatte keinen Gedanken an eine Jacke aufkommen lassen, doch nun kroch eine frische Brise in Celias Ärmel. An warmen Nachmittagen hatten sie und Djuna sich oft ihre Mäntel als Capes umgehängt und waren von der Bushaltestelle den Hügel hinuntergerannt, mit weit ausgebreiteten Armen, die Mantelcapes wie flatternde Schwingen im Rücken. Wenn Celia sich gerade hinstellte, waren sie gleich groß, aber Djuna hatte längere Arme und dazu äußerst gelenkige Finger, mit deren obersten Gliedern sie wackeln konnte. Am Fuß des Hügels ließen sie sich auf die Wiese fallen. Djuna behauptete steif und fest, sie könne das Gras wachsen hören, wenn sie das Ohr auf den Boden drückte.
Es war noch nicht einmal neun Uhr morgens, und doch hätte Celia am liebsten die Augen zugemacht und sich wie ein schlaftrunkenes Kind von irgendwem über die Schulter legen und nach Hause tragen lassen. Stattdessen betrachtete sie prüfend ihr Spiegelbild im Schaufenster. Nase und Kinn hatten schärfere Konturen angenommen, und ihr Haar war dunkler als früher. Sie hatte den Babyspeck verloren, der früher dazu verlockte, sie in die Wangen zu zwicken, doch ihre Augen waren noch immer von demselben blassen Blau. Djuna hätte in diesen Zügen ein kleineres Gesicht erkannt, dem sie nun entwachsen war. Celia sah ein letztes Mal forschend zu der gegenüberliegenden Ecke, hoffte, aus dem einen erinnerten Wort Djuna heraufzubeschwören, doch die Stimme, die sie vernommen hatte, war Licht von einem erloschenen Stern.
Über den Türen von Celias Zielort stand in Stein gemeißelt STATE OF ILLINOIS BUILDING, wie eine Siegerschärpe aus vergangenen Zeiten, die sich in der Glasfassade des neuen Preisträgers auf der anderen Straßenseite spiegelte. Dort beherbergte das Thompson Center eine U-Bahn-Station, ein Einkaufszentrum und den Großteil der Ämter, die zuvor in dem älteren Gegenüber residiert hatten. Das Gebäude, in dem Celia arbeitete, hieß jetzt «Bilandic» – eine Degradierung, mit der einem ehemaligen Bürgermeister gehuldigt werden sollte –, und der Rechnungshof des Staates Illinois war die nobelste der dort verbliebenen Behörden. Celia war ihr Gebäude immer das liebere gewesen. Hätte allerdings der Rechnungshof seinen Sitz ebenfalls in den Neubau verlegt, wäre sie an jenem Morgen nicht auf der Straße gewesen, sondern zusammen mit den Angestellten der Lotteriegesellschaft und der Wahlbehörde von der U-Bahn-Station zu ihrer Bürotür gelangt, ohne einen Fuß ins Freie zu setzen. Sie hätte das rote Auto nicht gesehen und sich bis an ihr Lebensende der Illusion hingeben können, kein größeres Scheusal zu sein als alle anderen auch.
Ich denke, also bin ich ist zu vage. Wir sind, weil wir uns erinnern. Jeder neue Moment wird auf Herz und Nieren geprüft, gewogen und dann gedanklich in Bernstein gepresst oder verworfen. Bisher hatte Celias Gedächtnis funktioniert wie Bauchspeicheldrüse oder Milz – vorhanden, aber verborgen, so notwendig wie vernachlässigt. Jetzt stellte sich heraus, dass es sie einundzwanzig Jahre lang getrogen hatte.
Celia durchquerte die Eingangshalle, nahm den Aufzug und erreichte ihr Büro in dem hypnotisierten Zustand, in den man durch lange Autofahrten verfällt. Sie fand sich vor dem Empfangstresen wieder, an dem Helene, Gary, Gloria und Steven standen und sie anstarrten.
«Celia?», fragte Helene. Celia spürte eine Hand auf ihrem Arm. «Alles in Ordnung?»
Celia wandte sich der Stimme zu. Fünf flüchtige Worte kamen aus ihrem Versteck. «Meine beste Freundin ist tot», sagte sie.
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2. Kapitel
Tags darauf saß Celia in einem Flugzeug Richtung Osten. Ihr Fensterplatz war das Ergebnis von Helenes Anweisung, nach Hause zu fahren und Sonderurlaub für die Beerdigung zu nehmen, an der sie, wie man annahm, sicher teilnehmen würde. Alles dazwischen – die morgendliche U-Bahn-Fahrt zurück nach Hause, der Moment, in dem Celia Huck von Djuna erzählte, das unangenehme Telefonat mit ihren Eltern, das in letzter Minute organisierte Ticket für den Flug nach Hause –, all das zu überstehen, hatte
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