Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Mitgefühl für die mittellosen Studenten zu wecken und sie zum Protest aufzurufen«. Sie führte in ihrem Gepäck einige hundert Exemplare eines lithographierten Aufrufs mit, der, wie es scheint, aus ihrer Feder stammte. Merkwürdigerweise hatte sie vom ersten Augenblick an den glühenden Haß des Gymnasiasten auf sich gezogen, obgleich er ihr zum ersten Mal im Leben begegnete, und ihr ging es nicht anders. Der Major war ihr Onkel und sah sie heute nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder. Als Stawrogin und Werchowenskij eintraten, waren ihre Wangen so rot wie Moosbeeren: sie hatte gerade mit ihrem Onkel über die Prinzipien der Frauenfrage gestritten.
II
WERCHOWENSKIJ warf sich auffallend zwanglos auf einen Stuhl am oberen Ende des Tisches, nachdem er kaum jemand gegrüßt hatte. Seine Miene drückte Widerwillen und sogar Hochmut aus. Stawrogin verbeugte sich höflich, aber ungeachtet dessen, daß man nur auf sie gewartet hatte, gaben sich alle, wie auf Kommando, den Anschein, als nehme man ihr Erscheinen nicht zur Kenntnis. Die Dame des Hauses wandte sich an Stawrogin, sobald er Platz genommen hatte:
»Stawrogin, möchten Sie Tee?«
»Gern«, antwortete dieser.
»Tee für Stawrogin«, befahl sie ihrer Schwester am Samowar.
»Sie auch?« (Das galt Werchowenskij.)
»Her damit! Freilich! Wie kann man Gäste so was fragen? Mit Sahne, bei Ihnen bekommt man immer Spülwasser statt Tee; dabei wird heute bei Ihnen Namenstag gefeiert.«
»Wie bitte? Gibt es für Sie den Namenstag?« Die Studentin lachte plötzlich. »Wir hatten vorhin davon gesprochen.«
»Schnee von gestern«, knurrte der Gymnasiast am anderen Tischende.
»Was heißt ›Schnee von gestern‹? Vorurteile überwinden, selbst die harmlosen, das ist niemals Schnee von gestern, sondern das Gegenteil, das muß zu unser aller Schande gesagt werden«, erklärte die Studentin schlagfertig, wobei sie sich auf ihrem Stuhl ruckartig vorbeugte. »Außerdem gibt es keine harmlosen Vorurteile«, fügte sie aufgebracht hinzu.
»Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen«, ereiferte sich der Gymnasiast, »daß Vorurteile selbstverständlich Schnee von gestern sind und ausgemerzt werden müssen, aber was den Namenstag betrifft, so ist es allgemein bekannt, daß das etwas viel zu Dummes und viel zu Überlebtes ist, um seine kostbare Zeit damit zu verschwenden, die die ganze Welt sowieso bereits verschwendet hat, so daß man seinen Scharfsinn auf einen nötigeren Gegenstand richten …«
»Viel zu lang, man versteht nichts«, rief die Studentin.
»Ich glaube, daß allen das Recht auf freie Meinungsäußerung zusteht, und wenn ich wünsche, meine Meinung, wie jeder andere auch, zu äußern, dann …«
»Niemand spricht Ihnen das Recht auf freie Meinungsäußerung ab«, fuhr nun die Gastgeberin scharf dazwischen, »Sie werden nur gebeten, nicht so verschlafen daherzureden, weil kein Mensch Sie versteht.«
»Gestatten Sie mir, zu bemerken, daß Sie mich nicht achten; wenn ich meinen Gedanken nicht zu Ende führe, so liegt das nicht daran, daß ich keine Gedanken habe, sondern eher zu viele …«, murmelte der Gymnasiast fast verzweifelt und verlor endgültig den Faden.
»Wenn Sie nicht reden können, dann halten Sie den Mund«, platzte die Studentin heraus.
Der Gymnasiast sprang sogar von seinem Stuhl auf.
»Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen«, schrie er mit vor Scham hochrotem Kopf und ängstlich bemüht, niemanden im Kreis anzusehen, »daß Sie sich nur deshalb mit Ihrem Verstand vorgedrängt haben, weil Herr Stawrogin eingetreten ist – so ist das!«
»Ihr Gedanke ist schmutzig und unmoralisch und beweist, wie armselig Ihre Entwicklung ist. Ich bitte, mich nicht mehr anzusprechen«, schnatterte die Studentin.
»Stawrogin«, begann die Gastgeberin, »bevor Sie kamen, hat man über die Rechte in der Familie gestritten, zum Beispiel dieser Offizier« (sie wies mit dem Kopf auf ihren Verwandten, den Major). »Natürlich werde ich Sie mit diesen alten Albernheiten verschonen, die längst abgetan sind. Aber wie entstanden die Rechte und die Pflichten in der Familie im Sinne jenes Vorurteils, wie sie uns heute erscheinen? Das ist das Problem. Wie ist Ihre Meinung?«
»Wie sie entstanden? Was heißt das?« wiederholte Stawrogin.
»Das heißt, wir wissen zum Beispiel, daß das Vorurteil des Gottesglaubens auf Blitz und Donner zurückzuführen ist«, mischte sich wieder die Studentin ein, wobei sie Stawrogin mit den Augen beinahe verschlang, »es ist
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