Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Mitglieder der ersten Fünfergruppe an diesem Abend dazu neigten, unter Wirginskijs Gästen weitere Mitglieder irgendwelcher ihnen unbekannten Gruppen zu vermuten, die ebenfalls in ihrer Stadt auf ebendemselben konspirativen Weg von ebendemselben Werchowenskij gegründet worden wären, so daß schließlich sämtliche Anwesenden einander beargwöhnten und voreinander posierten und die ganze Versammlung ein wirklich konfuses und zum Teil sogar romantisches Bild darbot. Übrigens gab es Menschen darunter, die über jeden Verdacht erhaben waren. Zum Beispiel ein aktiver Major, Wirginskijs naher Verwandter, ein ganz und gar harmloser Mann, der gar nicht eingeladen, sondern aus eigenen Stücken gekommen war, um zum Namenstag zu gratulieren, so daß man ihn unmöglich abweisen konnte. Aber der Gefeierte konnte völlig beruhigt sein, denn der Major »kann nie und nimmer denunzieren«, weil er sich, ungeachtet seiner Beschränktheit, für sein Leben gern dort herumtrieb, wo extreme Liberale anzutreffen waren; ohne zu sympathisieren, hörte er gerne zu. Damit nicht genug, er hatte sich sogar schon kompromittiert: Durch seine Hände waren, als er noch jung war, ganze Packen des » Kolokol « und von Proklamationen gegangen, und obwohl er sich gescheut hatte, sie auch nur aufzuschlagen, hätte er eine Weigerung, sie zu verbreiten, für eine ausgemachte Niedertracht gehalten – so sind manche Russen sogar heute noch. Die übrigen Gäste gehörten entweder zu dem Typus eines bis zur Galligkeit verdrängten vornehmen Ehrgeizes oder zu dem Typus des ersten Schwungs edelmütiger Jugend. Zu dem ersten gehörten zwei oder drei Lehrer, darunter ein etwa fünfundvierzigjähriger hinkender Gymnasiallehrer, ein ausgesprochen giftiger und auffallend ehrgeiziger Mann, und zwei oder drei Offiziere. Zu dem zweiten – ein blutjunger Artillerist, der erst vor einigen Tagen aus einer Offiziersschule hierhergekommen war, ein schweigsamer Junge, der noch keine Zeit gehabt hatte, Bekanntschaften zu schließen, sich nun plötzlich bei Wirginskij fand und mit einem Bleistift, ohne sich am Gespräch zu beteiligen, jeden Augenblick etwas in sein Notizbuch kritzelte. Alle sahen es, gaben sich aber aus irgendeinem Grunde den Anschein, als bemerkten sie es nicht. Auch jener beschäftigungslose Seminarist, der mit Ljamschin zusammen der Bücherverkäuferin die widerlichen Photographien untergeschoben hatte, hatte sich hier eingefunden, ein kräftiger Bursche mit flegelhaftem, aber zugleich mißtrauischem Gebaren, gleichbleibendem sarkastischen Lächeln und der unerschütterlichen Ruhe seiner eigenen triumphierenden Vollkommenheit. Auch der Sohn unseres Stadtoberhaupts war aus irgendeinem Grunde da, jener üble, trotz seiner Jugend verlebte Bursche, den ich bereits erwähnt habe, als ich die Geschichte der kleinen Leutnantsfrau erzählte. Dieser schwieg den ganzen Abend. Und dann, schließlich, ein Gymnasiast, ein vor Eifer glühender, strubbeliger achtzehnjähriger Junge, der mit der düsteren Miene eines in seiner Würde gekränkten Menschen dasaß und sichtlich unter seinen achtzehn Jahren litt. Dieses Kind war bereits Anführer einer selbständigen Verschwörergruppe, die sich in der obersten Klasse des Gymnasiums gebildet hatte, was sich alsbald zu aller Erstaunen herausstellen sollte. Ich habe Schatow noch nicht erwähnt: Er hatte an dem untersten Ende des Tisches Platz genommen, seinen Stuhl zurückgeschoben, hielt den Blick zu Boden gerichtet, schwieg finster, lehnte Tee und Weißbrot ab und behielt während der ganzen Zeit seine Mütze in der Hand, als wolle er auf diese Weise demonstrieren, daß er nicht als Gast, sondern in einer geschäftlichen Angelegenheit gekommen sei und nach Gutdünken aufstehen und fortgehen könne. Unweit von ihm saß auch Kirillow, ebenfalls sehr schweigsam, wenn er auch seinen Blick nicht auf den Boden heftete, sondern, im Gegenteil, jeden Sprechenden unverhohlen aus seinen glanzlosen Augen anstarrte und sich alles völlig gleichmütig und ohne Erstaunen anhörte. Einige Gäste, die ihn vorher nie gesehen hatten, betrachteten ihn nachdenklich und verstohlen. Man weiß nicht genau, ob M me. Wirginskaja selbst von der Existenz der Fünfergruppe wußte. Ich nehme an, daß sie alles wußte, und zwar durch ihren Gatten. Die Studentin dagegen war ahnungslos, hatte aber ihre eigenen Sorgen; sie beabsichtigte, einen oder zwei Tage hierzubleiben und dann weiter und immer weiter durch alle Universitätsstädte zu reisen, »um
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