Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Wirginskaja nahm alles so hin, als hätte sie es sich nicht anders gewünscht. Es ist bemerkenswert, daß eben diese strengen Damen, sobald sie sich in besonderen Umständen befanden, sich nach Möglichkeit an Arina Prochorowna (das heißt an M me. Wirginskaja) wandten, ohne die drei anderen Hebammen unserer Stadt zu bemühen. Sogar die Gutsbesitzerinnen aus dem Kreise ließen sie holen – so groß war der Glaube an ihre Kenntnisse, ihre glückliche Hand und ihre Geschicklichkeit in den entscheidenden Augenblicken. Schließlich praktizierte sie nur noch in den wohlhabendsten Häusern; das Geld nämlich liebte sie bis zur Gier. Nachdem sie ihrer Macht sich bewußt geworden war, machte sie keinen Hehl mehr aus ihrem Charakter. Bei ihrem Wirken in den vornehmsten Häusern pflegte sie, vielleicht sogar mit Absicht, die angegriffenen Nerven der Wöchnerinnen durch eine unerhörte nihilistische Mißachtung der Anstandsregeln oder, schließlich, durch offene Verhöhnung »alles Heiligen« zu strapazieren, und zwar ausgerechnet in jenen Minuten, da das »Heilige« am meisten vonnöten gewesen wäre. Rosanow, unser Stabsarzt (und Accoucheur), bezeugte ausdrücklich, daß einmal, als eine Gebärende in den Wehen geschrien und den allmächtigen Namen Gottes angefleht habe, eine blasphemische Äußerung Arina Prochorownas unvermittelt, »wie ein Gewehrschuß«, die Leidende erschreckt und damit ihre Niederkunft beschleunigt habe. Obwohl sie Nihilistin war, zeigte sich Arina Prochorowna bei gegebener Gelegenheit nicht nur für weltliche Bräuche offen, sondern auch für althergebrachte, im höchsten Grade abergläubische, wenn sie ihr nur einen Vorteil brachten. Nicht um alles hätte sie zum Beispiel bei der Taufe eines mit ihrer Hilfe auf die Welt beförderten Kindes gefehlt, wobei sie in einem grünen Seidenkleid mit Schleppe erschien und ihren Chignon in lauter Locken und Korkenzieherlöckchen verwandelte, während zu anderen Zeiten ihre Nachlässigkeit schon an Selbstgefälligkeit grenzte. Auch wenn sie während der heiligen Handlung immer die »dreisteste Miene« zur Schau trug und damit die Geistlichkeit in Verlegenheit brachte, reichte sie doch nach der kirchlichen Feier eigenhändig den Champagner herum (zu diesem Zweck war sie ja erschienen und hatte sich geputzt), und wehe, wenn einer versucht hätte, sich einen Kelch zu nehmen, ohne ihr »für’s B’reichen« etwas hinzulegen.
Die Gäste (fast ausschließlich Männer), die sich diesmal bei Wirginskij versammelt hatten, wirkten irgendwie zusammengewürfelt und unüblich. Es gab weder Imbiß noch Karten. In der Mitte des großen Wohnzimmers mit ausgesprochen alten, hellblauen Tapeten waren zwei Tische aneinandergerückt und mit einem übrigens keineswegs makellosen großen Tischtuch bedeckt, darauf dampften zwei Samoware. Ein riesiges Tablett mit fünfundzwanzig Teegläsern und ein Korb mit gewöhnlichem Franzbrot, wie für Zöglinge vornehmer Knaben- oder Mädcheninternate in unzählige Scheiben geschnitten, nahmen das eine Tischende in Anspruch. Der Tee wurde von einer dreißigjährigen Jungfer, einer Schwester der Hausfrau, eingeschenkt, einem weißblonden Wesen ohne Augenbrauen, schweigsam und giftig, aber von den neuen Anschauungen durchdrungen und sogar von Wirginskij im häuslichen Alltag geradezu gefürchtet. Im Zimmer befanden sich nur drei Damen: die Hausfrau, deren augenbrauenlose Schwester und die leibliche Schwester Wirginskijs, Fräulein Wirginskaja, die gerade aus Petersburg angereist war. Arina Prochorowna, eine stattliche Dame von siebenundzwanzig Jahren, keineswegs häßlich, ein wenig nachlässig frisiert, in einem unfestlichen grünlichen Wollkleid, saß da und ließ ihren kühlen Blick von einem Gast zum anderen wandern, als hätte sie es eilig, alle durch ihren Blick wissen zu lassen: “Seht, ich habe keine Angst, vor nichts!” Das frischangereiste Fräulein Wirginskaja, ebenfalls keineswegs häßlich, eine Studentin und Nihilistin, wohlgenährt und prall wie ein Bällchen, mit knallroten Wangen, hatte an Arina Prochorownas Seite Platz genommen, beinahe noch im Reisekostüm, hielt eine Papierrolle in der Hand und musterte die Gäste mit ungeduldig hüpfenden Blicken. Wirginskij selbst fühlte sich an diesem Abend nicht ganz wohl, war jedoch trotzdem erschienen und hatte es sich in einem Sessel am Teetisch bequem gemacht. Alle Gäste saßen ebenfalls, und schon diese steife Sitzordnung auf den Stühlen, rings um den Tisch, ließ die künftige
Weitere Kostenlose Bücher