Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
willkommen gewesen, jemanden zu fordern, in Sibirien sei er, nur mit dem Messer bewaffnet, auf Bärenjagd gegangen und sei mit Vorliebe in den sibirischen Wäldern flüchtigen Zuchthäuslern begegnet, die, nebenbei bemerkt, gefährlicher sind als jeder Bär. Es duldet keinen Zweifel, daß diese legendären Herrschaften das Angstgefühl durchaus kannten, sogar vielleicht in höchstem Maße, sonst wären sie bald ruhiger geworden und hätten das Gefühl der Bedrohung nicht in ein natürliches Bedürfnis verwandelt. Die Feigheit in sich überwinden – das war es, selbstverständlich, was sie reizte. Der anhaltende Siegesrausch und das Bewußtsein, keinen Sieger über sich zu kennen – das war es, was sie faszinierte. Dieser L—n hatte noch vor seiner Verbannung eine Zeitlang gehungert und sich durch schwere Arbeit sein Brot verdient, aus dem einzigen Grund, weil er sich den Forderungen seines reichen Vaters, die er für ungerechtfertigt hielt, nicht unterwerfen wollte. Folglich war seine Auffassung von Kampf sehr vielseitig; nicht nur Auge in Auge mit einem Bären und nicht nur beim Duell legte er Wert auf seine Standhaftigkeit und Charakterstärke.
Wie dem auch sei, seit jenen Zeiten sind viele Jahre ins Land gegangen, und die nervöse, gequälte und gespaltene menschliche Natur unserer Tage schließt ein Bedürfnis nach jenen unmittelbaren und ungebrochenen Empfindungen schlechterdings aus, Empfindungen, die manche ruhelosen Herrschaften der guten alten Zeit so sehr suchten. Möglicherweise hätte Nikolaj Wsewolodowitsch Herrn L—n von oben herab behandelt, ihn sogar einen Feigling und ewigen Angeber, ein Kampfhähnchen genannt – allerdings ohne es laut zu äußern. Er hätte beim Duell seinen Gegner niedergeschossen, wäre, wenn nötig, auf Bärenjagd gegangen und auch im Wald mit einem Verbrecher fertig geworden – genauso erfolgreich und genauso furchtlos wie L—n, aber nun ohne jedes Lustgefühl, sondern einzig der lästigen Notwendigkeit gehorchend, lasch, träge und sogar gelangweilt. An Grimm war natürlich ein Fortschritt gegenüber einem L—n und sogar gegenüber einem Lermontow zu verzeichnen. Nikolaj Wsewolodowitsch trug in sich mehr Grimm als vielleicht diese beiden zusammengenommen, aber sein Grimm war kalt, ruhig und, wenn man sich so ausdrücken darf, vernünftig – folglich der abscheulichste und schrecklichste, den es geben kann. Ich wiederhole noch einmal: schon damals hielt ich ihn und halte ihn heute noch (da alles zu Ende ist) eben für einen Menschen, der, wenn er einen Schlag ins Gesicht bekommt oder eine ähnlich schwere Beleidigung erfährt, seinen Gegner ohne Verzug tötet, sofort, auf der Stelle und ohne ihn erst zu fordern.
In diesem Fall jedoch geschah etwas anderes und Rätselhaftes.
Kaum stand er wieder gerade, nachdem er so schmählich seitwärts gewankt war, fast um die halbe Körperlänge, von der erhaltenen Ohrfeige, und der gemeine, irgendwie feucht klatschende Faustschlag war noch nicht im Zimmer verhallt, als er Schatow mit beiden Händen an den Schultern packte, sofort jedoch, fast im selben Augenblick, beide Arme blitzschnell zurückzog und sie auf dem Rücken verschränkte. Er schwieg, sah Schatow an, und alle Farbe wich langsam aus seinem Gesicht, er wurde bleich wie Leinwand. Sonderbarerweise schien sein Blick gleichsam zu erlöschen. Zehn Sekunden später blickten seine Augen kalt und – ich bin fest überzeugt, daß ich mich nicht täusche – ruhig. Nur seine Blässe war auffallend. Natürlich weiß ich nicht, was im Inneren dieses Menschen vorging, ich sah ihn nur von außen. Ich glaube, daß, wenn es einen Menschen gäbe, der zum Beispiel eine rotglühende Eisenstange packen und fest mit der Hand umklammern würde, mit der Absicht, die eigene Charakterfestigkeit zu prüfen, und dann zehn Sekunden lang gegen den unerträglichen Schmerz kämpfen und ihn schließlich überwinden würde – daß dieser Mensch, glaube ich, etwas dem Ähnliches aushalten würde, was in diesen zehn Sekunden Nikolaj Wsewolodowitsch ausgestanden hat.
Schatow war der erste, der die Augen niederschlug, offenbar, weil er sie niederschlagen mußte. Darauf drehte er sich langsam um und ging zur Tür, aber seine Haltung war nun völlig anders als vorhin beim Näherkommen. Jetzt ging er langsam, die Schultern besonders linkisch hochgezogen, mit hängendem Kopf und wie in ein Selbstgespräch versunken. Ich glaube, er flüsterte etwas vor sich hin. Bis zur Tür trat er behutsam
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