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Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Lange-Müller
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der Stadt«, in Düppel-Süd, an so einer »Therapie-statt-Strafe-Maßnahme nach Paragraph 35 des Betäubungsmittelgesetzes« teilzunehmen. Doch bald hätte es »einen Vorfall gegeben, nichts Schlimmes, nur einen kleinen Verstoß gegen die Bauernhofregeln«, für den euch allerdings die »übelsten Konsequenzen« angedroht worden wären. Daraufhin hättest du deinem Freund Benno, der zusammen mit dir wegen »schweren Raubes« verurteilt worden wäre und sowieso meistens deiner Meinung, »beigebogen«, daß ihr »diesen Krümelkackern den dicken Daumen zeigen«, also »erst einmal abhauen« müßtet.
    Du sagtest das langsam, leise und im Liegen. Nur ich war von meiner Matratze hochgefahren, schon bei dem Wort Knast, und hatte mich vor dir aufgebaut, in klassischer Pose: breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestemmt; doch du verzogst bloß spöttisch den Mund, als hättest du mich mit geschlossenen Augen sehen können. Deine Hand kam, eine Spinne imitierend, unter der Bettdecke hervorgekrabbelt, tastete nach einem meiner nackten Füße, umfaßte das Knöchelgelenk – wie eine Beute – und drückte zu, so überraschend kraftvoll, daß ich vor dir in die Knie ging. Dann legtest du mir den Arm um den Hals, und ich schmiegte mein Gesicht an deine Brust. Eher aufgeregt als erregt, erwartete ich dennoch mehr, wollte dir entgegen-, ja zuvorkommen, und zerrte,soweit die Fixierung, in die du mich genötigt hattest, dies zuließ, an den Knöpfen meiner Jeans.
    Der Trick oder was das war, mit dem du mir wie einem Gummitier die Luft herausließest, bestand in einem kleinen, spitzmäuligen, geradezu lächerlich sanften Kinderkuß, von dem meine Wange noch Stunden später glühte, als hätte mich etwas gestochen oder gebissen.
    Damit, daß ich einen solchen Kuß bekäme, hatte ich nicht gerechnet, nicht in diesem Moment, nicht so viele Jahre zu spät, eigentlich nie. Und das Wort Kinderkuß ist auch nicht genau genug, denn dein erster Kuß, Harry, war nicht wie von einem Kind, sondern wie für ein Kind, und wenn er nicht so unglaublich liebevoll und ich nicht so verblüfft gewesen wäre, hätte ich gedacht: Der will mich nicht – oder höchstens verarschen. Seit der Sekunde, da deine Lippen meinen auswichen, bloß meinen linken Mundwinkel und mich darum um so mehr berührten, wußte ich, das ist der Kuß, den mir keiner gegeben hatte, in einer Zeit, zu der Küsse wie dieser gehört hätten.
    Mein Erschrecken darüber, die darauf folgende Mischung aus Trauer und etwas Freude, kann ich nur mit jenem Gefühl vergleichen, das mich erfaßte, als ich im Mai 1984, zwei Jahre vor meinem Umzug in dein Deutschland, von Ulan Bator nach Irkutsk geflogen war und am Saum des Rollfelds den Wald bemerkte und unter Tränen lachend stehenblieb, weil ich beim Anblick dieser sibirischen Fichten begriff: Ich hatte seit zehn Monaten keinen Baum gesehen. Verstehst du? Erst als ich wieder Bäume sah, wußte ich, daß sie mir gefehlt hatten und wie sehr.
    Dein Kuß rief einen ähnlich süßen Schmerz hervor, zumal das Brennen, das ihm folgte, wohl doch nur vonScham verursacht war; denn auch dies wußte ich plötzlich: daß alle Küsse, an die ich mich erinnern konnte, selbst die frühesten, das gewesen waren, was ich von dir erwartet, aber nicht bekommen hatte und umgekehrt. Harry, deinen beunruhigend harmlosen Premierenkuß von so brutaler Zärtlichkeit, daß mir heute noch heiß wird, wenn ich nur daran denke, gabst du einer, der Selbstmitleid ziemlich neu war, die vor jener noch immer andauernden Sekunde, in der sie diesen nicht sexuellen Kuß empfing, kaum für möglich gehalten hätte, daß sie sich als Kind nach genau dem gesehnt haben könnte – und nie nach einem von den anderen Küssen. Und jetzt sage ich dir, was du damals nicht wissen solltest, weil ich mich nur geschämt und dich vielleicht in Verlegenheit gebracht hätte, daß schon die Vaterküsse, die das Sojalein einst hinnahm, runterschluckte wie klumpigen Reisbrei, Männerküsse gewesen waren, ungekonnte zudem, die es nicht gemocht, aber für alternativlos gehalten hatte.
    Und jene Männer, die meinen Vater ablösten und schließlich ersetzten, küßten weder anders noch besser. Und Mutter- oder Omaküsse waren nicht vorgekommen; und später, als mich dann doch einige Frauen küßten, unterschieden die sich dabei wenig von den Männern, und auch sonst nicht so sehr, daß sie mir grundsätzlich lieber gewesen wären.
    »Tja, Soja«, sagtest du, während ich, an deiner Brust klebend,

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