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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narinder Dhami
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vergangenen Woche ist mir klarer denn je, dass wir so nicht weitermachen können, aber bei dem Gedanken an die Alternative packt mich eiskalte Angst.
    Jamie ist immer noch sauer, und er ist unruhig. Unablässig tappt sein Fuß auf die Fliesen. Der schwarz-weiße viktorianische Flurboden müsste dringend geputzt werden. Mindestens sechs Fliesen sind zerbrochen. Bretter ersetzen die fehlenden Buntglasscheiben der Tür. Seit Opas Tod geht es auch mit dem Haus steil bergab.
    »Warum machst du das, Mia?«, will Jamie wissen. Seine dunklen Augen fixieren mich, und ich kann seine Anspannung förmlich spüren. Er wirkt wie ein in die Enge getriebenes Tier, das bereit ist, bis zum Tod zu kämpfen. »Warum musst du ihr immer nachgeben?«
    Ich seufze. »Lass gut sein.«
    Jamie spricht aus, was ich eben noch gedacht habe: »Du weißt doch, dass es so nicht weitergehen kann.«
    »Na, dann hilf mir!«, platzt es aus mir heraus. »Sag mir, was ich tun soll!«
    Jamie schüttelt den Kopf. »Du kapierst es einfach nicht, oder?«, entgegnet er müde. »Ich kann den Laden nicht alleine schmeißen, und du schaffst es nicht, dich gegen Mum durchzusetzen. Darum gerät alles außer Kontrolle. Reiß dich zusammen! Du musst härter werden. Du kannst dich nicht für immer auf mich verlassen.« Er bricht ab und sieht weg. Ich versteife mich, weil ich schon ahne, was jetzt kommt. »Was würdest du machen, wen n … na ja, wenn ich nicht mehr hier wäre?«
    Mir wird eiskalt. Etwas Ähnliches hat er schon mal gesagt, mehrmals sogar, und ich habe keine Ahnung, was er damit meint. Ich frage lieber nicht nach.
    »Sei nicht blöd.« Ich lache nervös. »Ich mag es nicht, wenn du so einen Quatsch redest. Du gehst doch nicht weg!«
    Jamie schaut mich nicht an. Schweigt. Panik schnürt mir die Kehle zu, und ich bekomme kaum noch ein Wort über die Lippen. Was geht nur in seinem Kopf vor? Früher hätte ich es gewusst. Aber jetzt umgibt meinen Bruder ein unergründliches, finsteres un d – wie ich fürcht e – gefährliches Geheimnis.
    »Du würdest mich doch nicht einfac h … im Stich lassen, oder?«, krächze ich.
    Jamie wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Hier läuft alles falsch«, sagt er mit leiser Stimme und macht mir damit mehr Angst, als wenn er die Worte herausgebrüllt hätte. »Und ich habe es satt, die Dinge geradezurücken.«
    Er steht auf und stapft sichtlich frustriert die Stufen hinauf. Ich gehe ihm nach, aber er bleibt stehen, wo die Treppe abknickt, und dreht sich zu mir um.
    »Weißt du noch, was ich letzte Woche gesagt habe, Mia?«, flüstert er. »Ich hab dich gewarnt. Wenn Mum sich keine Hilfe holt, müssen wir ihr zeigen, was sie uns mit ihrer Krankheit antut!«
    »Du hast gesagt, dass du sie wachrütteln willst. Damit sie es endlich kapiert.«
    Ich zittere. Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde, und ich fürchte mich entsetzlich. »Du hast gesagt, wir müssen ihr klarmachen, dass sie nicht so weitermachen kann. Und wir auch nicht.«
    Jamie nickt. Er scheint mich mit seinen dunklen Augen förmlich zu durchbohren. »Es ist Zeit.«
    Seine Stimme klingt so entschlossen, dass mir die Knie einknicken.
    »Aber was hast du denn vor?«, frage ich verzweifelt. »Was, Jamie?«
    Jamie starrt auf mich herab. Seine Miene ist verschlossen, nicht zu deuten, aber ich erkenne einen Hauch von Trauer in seinem Blick.
    »Das kann ich dir nicht sagen, Mia«, antwortet er knapp und verschwindet nach oben.
    Mir ist übel vor Angst.
    Ich weiß, dass Jamie Recht hat. So kann es nicht weitergehen. Doch ich bin zu schwach und zu feige, um etwas zu unternehmen. Ich bin ein stilles Mäuschen, das nicht auffallen will.
    Jamie und ich sehen uns sehr ähnlic h – jeder kann sich denken, dass wir Zwillinge sin d –, aber ich bin bloß ein blasser Abklatsch von ihm, sein Schattenbild. Wir haben beide schwarzes Haar. Seins ist voll und glänzend, meins dagegen strähnig und matt. Obwohl unsere Augen denselben Braunton und dieselbe Form haben, sind meine stumpf, während seine funkeln. Jamie ist groß und sportlich. Ich bin nicht kleiner, aber ungelenk und knochig. An mir ist nichts Besonderes. Jamie ist fünf Minuten jünger als ich, hat aber nicht nur das gute Aussehen für sich gepachtet, sondern auch den starken Charakter, das Temperament, die Power. Er hat vor nichts Angst. Ich dagegen bin nicht der Typ, der sich aufspielt oder sich unbedingt durchsetzen muss. Ich gehe lieber den Weg des geringsten Widerstands und nehme, was man mir

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