Böser Bruder, toter Bruder
sein kann und warum es nicht wahr sein darf . Aber Dr . Macdonalds kalte, klare Logik hat sich hinterrücks angeschlichen, mich vollkommen unerwartet gepackt und hält mich nun eisern fest.
»Das hast du erzählt, ja«, sagt sie. »Und was geschah dann?«
»Ich dachte, dass Jamie etwas Krasses tun würde, damit Mum begreift, dass wir es satthaben«, antworte ich langsam. »Ich wusste nicht, was, aber ich dachte, dass er es auf Kat Randall abgesehen hatte, weil sie mich immer quält. Also bin ich aus dem Klassenzimmer gelaufen, u m …« Mir versagt die Stimme. Doch obwohl ich total durcheinander bin, versuche ich weiterzusprechen. »Ich wollte zum Anbau, u m …«
Wieder verlässt mich meine Stimme.
Es war nicht Jamie, der in den Anbau ging, weil er sich auf irgendeine Art an Kat Randall rächen und damit zugleich die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen wollt e – einschließlich Mums. Es war nicht Jamie, dessen Plan durchkreuzt wurde, weil Lee Curtis ihm in die Quere kam.
Ich war das.
Ich kann mich nicht erinnern, was ich im Sinn hatte, wie mein Plan aussah.
Aber ich war es.
Ich zittere. Ich ziehe die Knie an die Brust, schlinge die Arme um sie, lasse mein Haar übers Gesicht fallen und mache mich so klein wie möglich.
»Bin ich sehr krank?«, frage ich zögernd.
Dr . Macdonald sagt etwas, der Tonfall ihrer Stimme ist sehr beruhigend, aber ich höre ihr nicht zu. Ich lasse die vergangenen vierzehn Jahre an mir vorüberziehen.
M s Kennedy hat mir immer gesagt, ich hätte eine wunderbare Fantasie, die Vorstellungskraft einer Schriftstellerin, aber jetzt zeigt sich, dass mir genau das zum Verhängnis geworden ist.
Ich blicke zurück in die Vergangenheit und frage mich verzweifelt, ob es möglich ist, dass »Jamie«, der wilde, rücksichtslose, aufbrausende Jamie, die andere Seite der schwachen, unscheinbaren Mia ist. Hatte ich diese andere Persönlichkeit immer schon in mir?
Das würde erklären, woher ich den Mut und die Nerven hatte, mich in den Anbau vorzukämpfen und Lee Curtis zu überlisten.
Die Wut, die ich empfand, als M s Kennedy mich aus dem Schulhaus zerren wollte, und als Dr . Zeelander und Leo Jackson sich weigerten, uns zu helfe n – diese Wut war meine und Jamies. Es war Jamies Idee, Mum zu zwingen, sich helfen zu lassen, koste es, was es wolle, aber es war auch meine.
Ich bin Mia.
Ich bin Jamie.
Ich liege in meinem Krankenhausbett, habe mir die Decke über den Kopf gezogen, damit mich niemand sieht, und weine.
Ich weine um den Bruder, den ich zu kennen geglaubt habe, der aber nur in meinem Kopf existiert hat und nirgends sonst. Den Bruder, den ich so skrupellos benutzt habe, um den Hass und die Wut auszuleben, die das graue Mäuschen Mia immer unterdrückt hat. Ist es möglich, dass all diese intensiven Gefühle so viele Jahre in mir eingeschlossen waren, ohne dass ich es bemerkt habe?
Wie es aussieht, bin ich sehr krank, noch viel schlimmer als Mum.
»Es tut mir leid, Jamie«, flüstere ich.
Aber was nützt das?
Ich entschuldige mich nur bei mir selbst.
Die Nacht bricht herein, aber die Schwester ist noch nicht gekommen, um die Jalousien herunterzulassen. Von der Lampe, die auf dem Nachtschränkchen steht, wird mein kleines Zimmer nur schwach beleuchtet. In der Luft hängt der Duft von Freesien, die Mum heute mitgebracht hat. Sie ist niedergeschlagen und hat noch immer große Angst um mich. Aber diese Angst hat sie tatsächlich dazu gebracht, sich Hilfe zu holen, und Dr . Macdonald hat die Maschinerie bereits in Gang gesetzt.
Heute ist etwas Erstaunliches geschehen. Mum hat mir erzählt, dass Leo Jackson sich bei ihr gemeldet hat. Was für ein Schock. Mum wirkte sehr verlegen und brauchte fast fünf Minuten, um mir diese Neuigkeit mitzuteilen. Ich sagte ihr nicht, dass ich Leo bereits kennengelernt habe, und ich glaube auch nicht, dass er mit ihr darüber gesprochen hat. Irgendwann werde ich es ihr erzählen.
Keine Geheimnisse mehr.
Leo hat die Zeitungsberichte gelesen und Mum angeboten, Unterhalt für mich zu zahlen. Aus schlechtem Gewissen? Wer weiß. Ich frage mich, ob er rückwirkend für vierzehn Jahre zahlen wird. Jedenfalls können wir das Geld wahrhaftig gut gebrauchen.
Ich habe Mum nicht gefragt, ob Leo irgendeine Art von Beziehung zu mir haben will. Das werde ich schon noch herausfinden, allerdings nur, wenn ich es auch will, und nur nach meinen Bedingungen.
Bree kann es kaum erwarten, dass ich wieder in die Schule komme. Es soll eine Feier geben und ich soll
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