Böser Engel
Kraft an ihnen, schrie um sein Leben. Damit die Lanzen noch tiefer eindringen konnten, versuchte er, sie gegen den Tisch zu rammen. Doch als sein Kopf nach unten ruckte, packte Helen die blutigen Stifte und zog sie rasch aus seinen Fäusten.
Geblendet vom Blut und von den Schmerzen, umklammerte er ihren Hals, zerriss ihren Rosenkranz und zerrte sie nach hinten auf den Boden der Dusche. Er will sich umbringen und mich mitnehmen, dachte sie. Zunächst hielt sie den Atem an; als sie verzweifelt nach Luft rang, waren ihre Atemwege versperrt. In panischer Angst nahm sie all ihre Kraft zusammen und versuchte, ihn wegzustoßen. Aber ihre Beine waren unter seinem mächtigen Körper hoffnungslos eingeklemmt, und ihre Arme waren zu schwach.
Als sie das Bewusstsein zu verlieren begann, zogen ihn die Wärter von ihr weg und drückten ihn gewaltsam aufs Bett. Nachdem sie ihn eine Weile festgehalten hatten, ließ er sich friedlich in einen Aufenthaltsraum abführen.
Einige Minuten später schaute Helen vom Korridor aus zu, wie man ihn zu einem Krankenwagen brachte. Ihr Hals schmerzte, und ihre Knie zitterten. »George«, schrie sie.
»Schatz, es tut mir leid. Es tut mir leid«, schrie er zurück.
»Es geht mir gut«, versicherte sie ihm. »Mach dir keine Sorgen.«
»Gib mir einen Kuss, Liebling«, bat er – und sie durften sich kurz umarmen.
Während der schnellen Fahrt zum Krankenhaus empfand Wethern eine seltsame, ruhige Freude über seine Blindheit. Die Dunkelheit befreite ihn von seinen Sorgen, aber diese kehrten schon auf dem Operationstisch zurück, als er mit einem Auge die Umrisse der Deckenlampe sah. »Oh nein«, dachte er, »ich war nicht gründlich genug.«
Nach der Rückkehr ins Gefängnis legte man ihm Handfesseln an, die mit dem Gürtel verbunden waren, sodass er seine Augen nicht berühren konnte. Er verfluchte die Ketten, die Wärter, die Welt und sich selbst. Er knurrte und fauchte und rüttelte am Gitter seiner Zelle. Als der Arzt kam, jammerte er: »Geben Sie mir eine Spritze! Geben Sie mir eine Spritze!« Nach der ersten Injektion verlangte er mehr. Jetzt war er wieder ein echter Hells Angel.
Er veranstaltete einen derartigen Aufruhr, dass die Wärter ihn schließlich in einen alten Lagerraum zerrten. Mit gefesselten Händen und Füßen streckte er sich auf dem Boden aus, gähnte und tat, als habe er sich beruhigt. Während er eine Zigarette rauchte, die er von einem Wärter geschnorrt hatte, lag er schlaff in seinen Fesseln da. Dann drehte er sich um, als wolle er den Rauch einatmen, und rammte sich den Stummel ins Auge. Die Wärter ärgerten sich über ihre Dummheit und stürzten sofort herbei, aber der Schaden war angerichtet.
Mit strafferen Fesseln brachte man ihn in eine Zelle. Allein in der Dunkelheit und im unheimlichen Gefängnis voller Echos wollte er unbedingt mit seiner Frau sprechen, um sich zu vergewissern, dass sie unverletzt war. Er tobte, bis mehrere Beamte in der Tür seiner Zelle standen.
»Ich komme raus«, brüllte er. »Ich will meine Frau sehen.«
»Sie bleiben hier«, sagte einer der Wärter. Aber Wethern stürmte durch die menschliche Barriere. Wie ein wild gewordener Elefant rannte er durch den Gang, obwohl sich die Wärter an seine baumelnden Ketten hängten. Er erreichte den Wachraum, doch kurz vor dem Frauenflügel gelang es den Beamten, ihn mit vereinten Kräften niederzuringen. »Ich gehe zu ihr, das ist sicher. Gott helfe mir!« Er schrie, bis einer der Beamten die Worte buchstäblich abwürgte.
Der Lärm war bis in Helens Zelle zu hören. Sie kauerte auf der Bettkante und ließ ihren zerrissenen Rosenkranz durch die Finger gleiten. Sie wäre am liebsten zu George hingerannt, doch sie konnte nichts tun. Perle für Perle reparierte sie den Rosenkranz. Die Aufseherin ging für ein paar Minuten hinaus. Als sie zurückkam, sagte sie: »Er hat noch ein Beruhigungsmittel bekommen. Jetzt schläft er endlich.«
Daraufhin nahm Helen selbst eine Tablette und schlief ebenfalls ein.
Kapitel 1
Eine Brutstätte für Engel
M eine Heimatstadt war Oakland. Es war ein rauer Ort, aber nicht so schlimm, wie die Einwohner von San Francisco behaupteten. Wie jede andere Industriestadt hatte auch sie ein hässliches Gesicht – Lagerhäuser am Ufer, rauchende Fabrikschlote, Frachtschiffe und endlose Bahndepots. Aber diese hässlichen Plätze brachten Brot auf den Tisch der Familien, die in den hübschen Arbeitervierteln an den grünen Abhängen im Osten wohnten.
Im Jahr 1955 lebte
Weitere Kostenlose Bücher