Böser Engel
schwerer, zwischen vergessenen und ihm unbekannten Ereignissen zu unterscheiden. Beruhigungsmittel linderten vorübergehend die Anspannung, aber seine Drogenabhängigkeit machte ihn immer noch nervös; darum setzte er die Medikamente ab.
Am Morgen des 8. November – er war die ganze Nacht in seiner Zelle auf und ab gegangen – weckte er seine Frau. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Er suchte nach Hinweisen auf die Identität der toten Frau.
»Geh schlafen«, drängte ihn Helen. »Du musst dich ausruhen.«
Er entschuldigte sich dafür, dass er sie geweckt hatte, und ging erneut eine Minute hin und her. Dann sagte er: »Ich muss dich hier herausholen.«
»Was meinst du damit?« Sie rieb sich die Augen und ordnete ihre Gedanken.
Schwerfällig setzte er sich und grübelte. Es schien so, als höre er jemandem zu.
»Was meinst du damit?«, fragte sie abermals und befreite sich von der Bettdecke.
»Pst! Gott spricht zu mir.« Er schloss die Augen.
»Was sagt er?« Sie nahm sein Gesicht in die Hände; aber er blieb stumm. Dann öffnete er plötzlich die Augen und starrte sie mit gläsernem Blick an.
»George«, flüsterte sie eindringlich, »du musst mit jemandem reden.«
Als Hilfssheriff Jim Tuso eintraf, hing Wethern an den Gitterstangen der Zelle und griff verzweifelt nach der Waffe des Beamten. »Töten Sie mich, Jim!«, schrie er. »Tun Sie es! Tun Sie es!«
Seine Frau umarmte ihn und strich ihm über die Stirn. »Es geht ihm nicht gut«, erklärte sie dem Hilfssheriff. »Er ist durcheinander und will sein Beruhigungsmittel nicht nehmen.«
Nach einem kurzen, nun wieder vernünftigeren Gespräch nahm Wethern seinen Todeswunsch zurück. »Nichts für ungut, Jim«, sagte er. »Vergessen Sie’s. Ich bin jetzt in Ordnung.« Als er auf einen Stuhl sank und sich zu beruhigen schien, ging der Beamte.
Auf einmal sprang Wethern wieder auf. »Lasst mich mit Petersen reden. Verdammt, lasst mich mit ihm reden.«
»Okay, okay«, sagte seine Frau. »Er ist schon unterwegs.«
»Schaffst du es?«, fragte er. »Kommst du raus?«
»Was meinst du?« Sie wusste nicht, ob er den Knast oder den ganzen Schlamassel meinte.
»Schaffst du das?«, wiederholte er nachdrücklich.
»Wir können mit Petersen reden«, sagte sie, erschrocken, dass sie ihm nicht mehr folgen konnte.
»Wenn du es nicht kannst, muss ich es tun«, sagte er.
Der Anwalt kam, aber er konnte mit dem ehemaligen Angel nicht vernünftig reden, sosehr er sich auch bemühte.
»Gib nicht auf«, flehte Helen ihren Mann an. »Sprich mit Mr. Petersen. Er ist hier, um dir zu helfen.«
Wethern blieb angespannt, erschreckend angespannt und stur. Er redete unzusammenhängend. »Nein. Es wird nicht funktionieren. Sinnlos.«
Als der Anwalt gegangen war, schlug Wethern immer wieder mit der Faust auf das metallene Bettgestell, als wolle er eine Botschaft an sich selbst telegrafieren.
»He, George«, rief eine Aufseherin, die an der Korridortür stand. »Reg dich ab, ja?«
Er lächelte verschmitzt und bat sie, die Tür zu schließen, damit er die Toilette unbeobachtet benutzen könne. Sie zögerte, doch Helen versicherte ihr, es sei alles in Ordnung. Als die Tür einschnappte und die Schritte der Aufseherin verhallt waren, sprang er auf die Füße und zwang seine Frau auf die Knie. »Lass uns beten«, murmelte er. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Er griff nach einem Bleistift und wollte einen Brief schreiben. Also ging seine Frau mit ihm an den Metalltisch.
Umständlich malte er die Buchstaben seines Vornamens, GEORGE. Dann hielt er inne und wippte fast unwillkürlich mit dem Kopf, rhythmisch, aber schwerfällig, ein Gewuschel aus Haaren und Backenbart. Bilder schwirrten durch seinen Kopf, Gefühle verschärften die Bilder. Schuldgefühle, weil er das Leben seiner Frau und seiner Kinder verpfuscht hatte. Angst vor der Zukunft. Reue, weil er alte Freunde und Kameraden verraten hatte.
»Gib mir noch einen Bleistift«, sagte er.
Er schien beidhändig schreiben zu wollen, von rechts nach links und von links nach rechts. Dann griff er die Bleistifte so, dass sie in seinen Fäusten nach oben zeigten. Mit dem Daumen brach er eine Spitze ab. Seine Muskeln spannten sich und seine breiten Unterarme zuckten nach oben. Die Bleistifte drangen tief in seine Augen ein, an den Augäpfeln vorbei, hin zum Ziel. Das Gehirn, die Quelle seiner Qual, musste durchbohrt, musste getötet werden. Seine dicken Hände strengten sich an, doch Helen warf sich über den Tisch und zog mit aller
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