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Böser kleiner Junge (German Edition)

Böser kleiner Junge (German Edition)

Titel: Böser kleiner Junge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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höchstwahrscheinlich nach dem Verlust des eigenen Kindes völlig den Verstand verloren hatte, war zumindest ein halbes Leben vergönnt gewesen. Auch wenn es ein unglückliches gewesen war, beherrscht von paranoiden Vorstellungen bis hin zu ausgewachsenem Verfolgungswahn. Doch um es einmal so auszudrücken – ein halbes Leben war besser als gar keines. Der Fall des kleinen Jungen schien da weitaus tragischer zu sein. Dem Gerichtsmediziner zufolge war dieses Kind, das sich zur falschen Zeit auf dem Barnum Boulevard befunden hatte, höchstens zehn Jahre alt gewesen, wahrscheinlich eher acht. Das war noch kein Leben, bestenfalls der Prolog dazu.
    McGregor brachte Hallas zurück, kettete ihn an den Stuhl und fragte, wie lange es wohl noch dauern würde. »Er wollte nichts essen, aber ich könnte schon was vertragen.«
    »Nicht mehr lange«, sagte Bradley. Eigentlich hatte er nur noch eine einzige Frage, und er stellte sie, sobald Hallas sich gesetzt hatte.
    »Wieso gerade Sie?«
    Hallas hob die Augenbrauen. »Wie bitte?«
    »Wieso hat sich dieser Dämon – denn dafür halten Sie ihn ja wohl – gerade Sie ausgesucht?«
    Hallas lächelte. Eigentlich verzog er nur die Lippen. »Also, das ist eine reichlich naive Frage, oder? Sie könnten genauso gut fragen, wieso ein Baby mit einer missgebildeten Hornhaut geboren wird, wie etwa Ronnie Gibson, und die nächsten fünfzig Kinder, die im selben Krankenhaus zur Welt kommen, kerngesund sind. Oder warum ein guter Mensch, der ein anständiges Leben geführt hat, mit dreißig an einem Gehirntumor stirbt, während ein Scheusal, das die Gaskammern von Auschwitz beaufsichtigt hat, über hundert Jahre alt wird. Auf die Frage, warum guten Menschen schlimme Dinge widerfahren, werden Sie an diesem Ort hier bestimmt keine Antwort bekommen.«
    Du hast sechs Mal auf ein unschuldiges Kind geschossen, dachte Bradley. Die letzten drei oder vier Schüsse erfolgten aus nächster Nähe. Wie um alles in der Welt kannst du dich als guten Menschen bezeichnen?
    »Darf ich Ihnen denn noch eine Frage stellen, bevor Sie gehen?«
    Bradley wartete.
    »Haben ihn die Behörden mittlerweile identifiziert?«
    Hallas fragte dies im lässigen Gesprächston eines Gefangenen, der nur plaudern wollte, um die Zeit, die er nicht in seiner Zelle verbringen musste, etwas zu verlängern. In seinen Augen jedoch war zum ersten Mal seit Beginn dieser langen Unterredung so etwas wie echtes Interesse zu erkennen.
    »Ich glaube nicht«, antwortete Bradley. Tatsächlich wusste er es ganz genau. Er hatte eine Informantin im Büro des Staatsanwalts, eine junge Frau, die sich gegen die Todesstrafe engagierte und ihm den Namen und alle Einzelheiten über den Jungen hätte zukommen lassen, bevor die Presse Wind davon bekam und es veröffentlichte. Und die konnte es natürlich kaum erwarten. Die Story vom unbekannten ermordeten Jungen war landesweit von großem Interesse, das in letzter Zeit zwar etwas abgeflaut war, nach Hallas’ Hinrichtung jedoch mit Sicherheit wieder aufflackern würde.
    »Ich würde Ihnen ja raten, mal darüber nachzudenken«, sagte Hallas. »Aber das tun Sie sowieso, stimmt’s? Sie denken darüber nach. Wahrscheinlich nicht so sehr, dass Sie nachts nicht schlafen können, aber Sie denken drüber nach.«
    Bradley antwortete nicht.
    Hallas’ Lächeln wirkte jetzt ungekünstelt. »Ich weiß, dass Sie kein Wort von dem glauben, was ich Ihnen erzählt habe, und he, wer könnte es Ihnen verübeln? Aber strengen Sie mal für eine Minute Ihre grauen Zellen an, und denken Sie über diesen Jungen nach. Weiß, männlich, minderjährig – die Sorte Mensch, die am ehesten vermisst wird und nach der man mit dem allergrößten Aufwand sucht, da in unserer Gesellschaft weiße Jungs immer noch am meisten zählen. Heutzutage ist es doch gang und gäbe, dass den Kids bei der Einschulung die Fingerabdrücke abgenommen werden. Damit man sie identifizieren kann, wenn sie weggelaufen sind oder ermordet oder entführt werden – wie es ja manchmal geschieht, insbesondere bei hässlichen Sorgerechtsprozessen. Ich glaube, in diesem Bundesstaat ist das sogar gesetzlich vorgeschrieben, oder irre ich mich da?«
    »Nein, das stimmt«, sagte Bradley mit leichtem Widerwillen. »Da würde ich aber nicht zu viel hineininterpretieren, George. Dieses Kind ist durch das soziale Netz gefallen, mehr nicht. Das kommt schon mal vor. Das System ist nicht unfehlbar.«
    Hallas’ Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Reden Sie sich

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