Böses Blut
aber es scheint, als habe Larner nach dem Mißerfolg mit Jennings aufgegeben. Jetzt sammelt er nur noch Fakten. Ich habe das Gefühl, daß es viel mehr zu tun gibt, nicht zuletzt in bezug auf den zweiten Teil des Falls.«
Er nickte. Trotz seiner weitaus geringeren Detailkenntnis sah er ganz klar, daß man in den USA dem Neustart des Kentuckymörders nach fünfzehn Jahren hilflos gegenüberstand.
»Du meinst also, wir sollten die KGB–Spur nicht erwähnen?« fragte er todernst.
»Wir können etwas damit warten«, sagte sie ebenso todernst.
Ray Lamers Lunch bestand aus einer ausgezeichnet stilechten Pasta carbonara in der kleinen Hinterhofkneipe Divina Commedia in der 1lth Street. Sie waren ein wenig verwundert darüber, daß sie das Essen zusammen mit Loka Tischwasser serviert bekamen, aber die Welt war eben im Schrumpfen begriffen. Larner war in Hochform und wollte ununterbrochen über italienische Kochkunst sprechen, bei allem anderen winkte er ab, als fände er es unerheblich. Eine lange und auf peinliche Weise prestigebeladene Diskussion darüber, ob das beste Olivenöl aus Spanien oder Italien käme, endete mit einer Aufgabe, weil Kerstin sich plötzlich auf ihre diplomatische Strategie besann und Italien den Sieg überließ. Hjelms Konter mit Griechenland kam nicht besonders gut an. Australien erhielt ein paar unerwartete Punkte von einem Nachbartisch.
»Wenn ich pensioniert werde, gehe ich nach Italien«, sagte Larner laut. »Die Privilegien der pensionierten Witwer sind endlos. Ich werde mit dem Mund voll Pasta, Olivenöl, Knoblauch und Rotwein sterben. Alles andere ist undenkbar.«
Es war keine Übertreibung zu behaupten, daß er etwas vom Klischee eines Spezialagenten des FBI abwich.
»Sie sind also Witwer?« fragte Kerstin mit sanftem Bedauern.
»Meine Frau ist vor einem Jahr gestorben«, sagte Larner gutmütig kauend. »Gott sei Dank folgt nach der Trauer ein fast leichtsinniges Freiheitsgefühl. Wenn man sich nicht das Leben nimmt oder Alkoholiker wird. Und so ist es ja fast immer.«
»Haben Sie Kinder?« fragte Hjelm.
»Nein«, sagte Larner. »Wir haben es ungefähr bis zu dem Zeitpunkt diskutiert, als ich anfing, mich um K. zu kümmern.
Er hat mir allen Glauben an die Menschlichkeit genommen. Man kann keine Kinder in eine Welt setzen, die einen K. hervorbringt. Aber diese Begründung haben Sie sicher schon früher gehört.
»Ich habe es getan«, sagte Hjelm. »Kinder in die Welt gesetzt, meine ich.«
»Sie hatten damals noch keinen K. Warten Sie ab, ob Sie Enkelkinder bekommen.«
»Es wurden trotz Hitler Kinder geboren«, sagte Kerstin.
»Haben Sie Kinder, Halm?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ich Ihnen heute nachmittag zeigen werde«, sagte Larner und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »wird Sie für alle Zeit von dem Wunsch nach Kindern kurieren.«
»Zero tolerance« war ein Ausdruck, der für den neuen New Yorker Geist zur Zeit eine große Rolle spielte. Es war eine Umschreibung für Intoleranz und funktionierte ausgezeichnet. Die Polizei war ganz einfach gehalten, nichts außerhalb der Grenzen des Gesetzes zu tolerieren. Das kleinste Vergehen führte zur sofortigen Festnahme. Die Theorie hinter dem Ganzen war eine Art vertikaler Dominoeffekt: Wenn die Kleinkriminellen fallen, dann fallen auch die Großen. Der Ausgangsgedanke war, daß diejenigen, die schwere Verbrechen begehen, auch eine große Zahl leichterer begehen, und dabei ist es möglich, sie zu fassen.
Ray Larner stand als FBI–Mann außerhalb des Tätigkeitsbereichs der Polizei des Bundesstaats. Obwohl er jetzt im Herzen von New York arbeitete, betrachtete er das Projekt aus der Distanz. Seine Offenherzigkeit, für die es schon viele Beweise gab, erstreckte sich niemals auch nur einen Zentimeter auf kontroverses Gebiet. Dennoch schwang etwas Brüchiges in seinem Tonfall mit, als er im FBI–Wagen, neben Jerry Schonbauer sitzend, den New Yorker Geist beschrieb. War da eine Andeutung von düsterer Zukunftsvision, die sich an der Oberfläche seiner Intonation bemerkbar machte?
Natürlich war man in der größten Stadt der USA vor ein paar Jahren gezwungen gewesen, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Alles hatte kopfgestanden. Morde waren an der Tagesordnung. Polizei und Justiz waren hilflos. Es gab zwei Wege: den langfristigen und den kurzfristigen, den vorbeugenden und den bestrafenden. Leider hatte man die Situation so akut werden lassen, daß es eigentlich nur noch eine Alternative gab. Es bestand keine
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