Böses Blut
sogar der ständige Strom der Reisenden erschien statisch.
Schließlich blieben sie vor einer kleinen Tür mitten im Menschenmeer stehen. Larner zog ein Schlüsselbund hervor, fummelte einen Schlüssel ins Schloß und riß die Tür auf. Eine Besenkammer, das größere Modell. Leuchtröhren an der niedrigen Decke, saubere, ehemals weiße Wände, Regale mit pedantisch aufgereihten Putzutensilien, Lappen, Bürsten, Eimer, Handtücher. Sie gingen um die Regale herum und kamen in einen etwas offeneren Raum. Dort standen ein Stuhl und ein Schreibtisch, auf dem ein paar alte Brotscheiben lagen, weiter nichts, und an der Wand darüber war ein winziges Fenster, hinter dem startende und landende Flugzeuge ihre Riesenkörper vorbeischoben.
Hier hatte Lars–Erik Hassel die letzte Stunde seines Lebens verbracht.
Und was für eine Stunde.
Hjelm und Holm sahen sich um. Ein klinischer Raum, um dort eines klinischen Todes zu sterben.
Larner zeigte auf den Stuhl. »Das Original steht zur Zeit bei uns«, sagte er. »Abgesehen von Mister Hassels Körperflüssigkeiten gab es keine Spur. Das tut es nie.«
»Nie?« fragte Kerstin Holm.
»Als wir anfingen, gab es ja keine realen Möglichkeiten für eine DNA–Analyse«, sagte Larner mit einem Achselzucken. »Aber bei den sechs Morden der neuen Serie haben wir bestimmt nichts übersehen. Absolute Fehlanzeige. Als wäre er übermenschlich. K.«
Das letzte war nur ein Buchstabe, aber der Tonfall hob ihn in astronomische Höhen.
»Neun«, sagte Kerstin Holm.
Larner betrachtete sie eingehend und nickte schwer.
Hjelm blieb noch ein paar Sekunden zurück. Er wollte allein sein. Er setzte sich auf den Stuhl und sah sich um. Wie steril, wie amerikanisch steril und effektiv es hier aussah. Er schloß die Augen und versuchte, einen minimalen Zipfel des grauenhaften, lautlosen Schmerzes einzufangen, den diese Wände umschlossen hatten, versuchte, einen telepathischen Kontakt mit dem aufzunehmen, was hier noch von Lars–Erik Hassels Qualen im Raum hing.
Es funktionierte nicht.
Es war da, aber es lag jenseits aller Vorstellung.
Alles ging schnell. FBI–Agent Schonbauer chauffierte sie mit sicherer Hand durch ein Verkehrschaos von ungeahnten Dimensionen. Larner saß neben ihm und war halb eingeschlafen. Sie selbst saßen auf dem Rücksitz und fühlten sich klein, geschrumpft. Sie fuhren durch den riesenhaften Holland Tunnel unter dem Hudson River hindurch und kamen auf die Canal Street hinaus, bogen dann ziemlich bald nach links in Richtung SoHo ab. Sie fuhren die 8th Avenue hinauf und landeten schließlich bei einem kleinen Hotel namens Skipper's Inn, nahe beim Chelsea Park. Da der Parkplatz einer Swiftschen Utopie entsprach, wurden sie mit dem Hinweis auf der Straße abgesetzt, daß Larner in anderthalb Stunden wiederkommen würde. Sie erklommen die Treppe zu dem merkwürdig hohen, schmalen Haus, das wie ein Überbleibsel der Jahrhundertwende zwischen zwei bedeutend stärker glasperlenglitzernden Manhattan–Komplexen eingeklemmt stand.
Man gab ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer, deren Fenster auf die West 25th Street hinausgingen. Mit diesen Zimmern belegten sie ein Viertel des sechsten Stockwerks der Herberge, der es tatsächlich gelang, eine Ähnlichkeit mit einem englischen Wirtshaus zu simulieren – oder besser mit zwei übereinandergestapelten. Die Zimmer waren eher niedlich, in ländlichem Stil, wenn man von dem Lärm hinter den Feuerglasfenstern absah, die sich nicht öffnen ließen. Statt dessen gab es eine Klimaanlage, der es, obwohl sie auf vollen Touren lief und mit dem Straßenlärm konkurrierte, nicht gelang, die Raumtemperatur unter Körpertemperatur zu senken.
Hjelm legte sich aufs Bett, das bedenklich schwankte. Er war noch nie in den USA gewesen, aber es gab zwei Dinge, die er mit dem Land verband: Klimaanlagen und Eiswürfel. Wo war das Eis? Er stand auf und begab sich zur Minibar. Der ganze obere Teil des kaschierten Kühlschranks war ein Gefrierfach voller Eiswürfel. Er nahm ein paar heraus, ging zurück zum Bett und balancierte die Eiswürfel wie Hörner auf der Stirn, bis sie zu Augendeckeln aus Eis wurden.
Wie er sich im Stockholmer Regen nach der Sonne gesehnt hatte! Jetzt sehnte er sich sofort nach dem Stockholmer Regen. Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite, dachte er abgedroschen; sein Gehirn fühlte sich matschig an.
In amerikanischen Filmen zeigte sich New York meist von zwei Seiten: entweder knisternd in einer hysterischen, aber
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