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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amélie Nothomb
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Zimmer zurückerobert und mein Recht zu lesen. Nie habe ich so viel gelesen wie in dieser Zeit: Ich verschlang die Bücher, teils um meine Lesepause wieder wettzumachen, teils um mich zu wappnen für die Konfrontation. Wer meint, Lesen sei eine Flucht, liegt völlig falsch. Lesen bedeutet, sich der Wirklichkeit in ihrer konzentriertesten Form auszusetzen – was seltsamerweise lange nicht so erschreckend ist wie ihre ewigen Verdünnungen.
    Ich durchlebte eine Mixtur von Prüfungen, und das Quälendste war: Ich kriegte das Böse nicht zu fassen. Die Auswahl des Lesestoffs ist keineswegs zufällig, wie manche denken: Zu diesem Zeitpunkt begann ich Bernanos zu lesen, und das war genau die Lektüre, die ich brauchte.
    In Der Abtrünnige stolperte ich über den Satz: »Mittelmäßigkeit ist die Gleichgültigkeit dem Guten wie dem Bösen gegenüber.« Ich staunte.
     
    Einmal war ich zu spät dran. Ich mußte laufen, um noch pünktlich zu kommen. Als ich hechelnd den Hörsaal betrat, stand Christa am Katheder. Der Professor war noch nicht da, und sie benutzte seine Abwesenheit, um vorne Reden zu halten.
    Ich ging zu meinem Platz in der obersten Reihe. Erst als ich mich setzte, fiel mir auf, daß es seit meinem Eintreten mucksmäuschenstill war. Christa war in dem Moment verstummt, als ich den Saal betreten hatte.
    Alle hatten sich zu mir umgedreht und schauten mich an. Schlagartig wurde mir klar, um welches Thema es vorher gegangen war. Angesichts dieser Gemeinheit konnte ich nicht mehr gleichgültig bleiben.
    Ich mußte nicht lange nachdenken. Ich stand auf und ging die Stufen wieder hinunter. Von einer fast lachhaften Sicherheit beseelt, trat ich auf Christa zu.
    Sie lächelte siegesgewiß, in sicherer Erwartung ihres Triumphs. Endlich verlor ich meine Geduld. Endlich würde ich tun, was sie wollte, sie beschimpfen, sie angreifen, vielleicht sogar ohrfeigen, sie würde ihre Sternstunde erleben. Hoffnungsvoll blickte sie mir entgegen.
    Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände und legte meine Lippen auf ihren Mund. Ich hatte aus den Fehlern Renauds, Alains, Marcs, Pierres, Thierrys, Didiers, Miguels gelernt und improvisierte aus der tiefen Weisheit, die mir plötzlich zuteil geworden war, das Absurdeste, was das menschliche Hirn je ersann, das Nutzloseste, Verunsicherndste und Schönste, das es gab: einen klassischen Kinokuß.
    Kein Widerstand war zu spüren. Ich nutzte das Wesen des Überraschungseffekts: Wer das Unerwartete wagt, gewinnt. Für dieses Kräftemessen von Mund zu Mund stellte ich mich kirre.
    Nachdem ich ihr ausführlich meine Sichtweise erläutert hatte, stieß ich sie von mir. Zum Auditorium gewandt, fragte ich mit klangvoller Stimme:
    »Gibt es noch weitere Kandidaten?«
    Meine archée war enorm. Ich triumphierte über diese Hohlköpfe, denen das Lachen im Hals steckenblieb. Das war Hast at her best. Hätte ich achtzig Hellebarden gehabt, ich hätte sie alle durchbohrt. Doch in meiner unendlichen Sanftmut begnügte ich mich mit hochmütigen Blicken, polierte ein paar der verächtlichsten Fressen und räumte den Saal; ich ließ ein gebrochenes, geschlagenes Opfer zurück.
     
    Am nächsten Tag begannen die Osterferien.
    Christa fuhr nach Hause. Ich vergnügte mich damit, mir ihre Kreuzigung in Malmedy auszumalen – ein österliches Wunschbild. Weder meine Eltern noch ich bekamen Post.
    Zwei Wochen später fingen die Vorlesungen wieder an. Christa ließ sich nicht mehr an der Uni blicken. Niemand fragte mich, wie es ihr ging. Es war, als hätte sie nie existiert.
    Ich war immer noch sechzehn, immer noch Jungfrau, doch meine Stellung hatte sich ganz schön verändert. Wer sich im Reich des Knutschens einen solchen Ruf erworben hatte, wurde verdammt respektiert.
     
    Die Zeit verging. Im Juni fiel ich bei den Abschlußprüfungen durch. Ich war nicht mehr so recht bei der Sache. Bevor meine Eltern in Urlaub fuhren, ermahnten sie mich: Es sei in meinem eigenen Interesse, im September nicht noch einmal zu versagen.
    Ich hatte die ganze Wohnung für mich. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Ich freute mich. Wenn die blöden Prüfungen nicht gewesen wären, hätten es traumhafte Ferien werden können.

 
     
     
     
    E s war ein seltsamer Sommer. Brüssel brütete in einer komischen, häßlichen Hitze. Ich machte die Jalousien zu, um sie auszuschließen, und richtete mich in der lichtlosen Stille ein. Ich wurde zu Brüsseler Chicorée.
    Bald konnte ich im Dunkeln sehen wie am helllichten Tag. Ich machte nie

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