Böses mit Bösem
ein Kind, ich habe es nicht begriffen. Er hat unser Land hier geliebt – er hat mir gesagt, ich dürfte es nie für eine Selbstverständlichkeit halten –, aber seine Heimat ist immer dieses Dorf in Polen geblieben. Die haben die Nazis und die Sowjets ihm weggenommen.
Er ist nie zurückgekehrt. Er verlor gerade den Kampf gegen den Krebs, als die Sowjets das Handtuch warfen. Das wenigstens hat er noch miterlebt. Sharon wird für eine kleine Weile ein Flüchtling sein, daran kann ich nichts ändern. Aber ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass die Ältesten meine Tochter zwingen, als Fremde außerhalb ihres eigenen Landes aufzuwachsen.«
Benny stieg aus, was seine Art war, das Thema abzuschließen.
Wir holten das, was wir brauchten, aus dem Kofferraum: kugelsichere Westen, eine neue Schrotflinte und diese Maschinenpistole, die ich den Fisher-Leuten in Presmores Haus abgenommen hatte. Keine jungen Mütter oder neugierigen Kinder zogen die Vorhänge vor den Fenstern auf, um zwei Männer dabei zu beobachten, wie sie sich für einen Krieg bereit machten.
Wir gingen mitten auf der Straße. Unterwegs begegnete uns weder Auto noch Mensch.
»Kannst du irgendwas hören?«, fragte Benny.
Es gab keine Orte der Stille in New York: Dafür sorgten die Bevölkerungsdichte und dünne Wände. Selbst in den ruhigen Teilen der Stadt war immer ein Auto auf der Straße zu hören, ein Paar Absätze auf Asphalt oder der Klang ferner Musik. Ich lauschte nach spielenden Kindern, einem Rasenmäher, dem Summen einer Klimaanlage oder dem maschinengewehrähnlichen Rattern eines Rasensprengers. Der ständige Hintergrundlärm, den ich seit meiner Kindheit ausfilterte, fiel durch seine Abwesenheit auf. Selbst die |419| Stromleitungen, die sonst immer ein leises Summen von sich gaben, waren stumm.
»Denkst du, dass es irgendeine Art von Angriff war?«, fragte Benny. »Chemisch oder biologisch vielleicht?« Atomar ließ er aus, obgleich er auch ohne Geigerzähler wusste, dass wir vielleicht gerade massenhaft radioaktive Strahlen in uns aufsaugten, ohne es zu merken.
»Davon hätten wir gehört«, sagte ich.
Die Straße entlang zogen sich überdimensionierte Einfamilienhäuser von der Stange – sieben verschiedene Typen zu groß geratener Gebäude, die fast gegen die Ränder der Grundstücke stießen. Die Rasenstücke vor den Häusern zeigten Anzeichen erst jüngster Vernachlässigung: Sie waren eingesät und gepflegt worden, hatten aber höher wachsen dürfen als schicklich war. Ihr üppiges Grün schloss die atomare Möglichkeit ohnehin aus.
»Das GPS sagt, noch zweihundert Meter weiter«, meinte ich.
Das Satellitentelefon läutete. »Sie sind angekommen. Sparen Sie sich die Mühe«, sagte die Stimme, als ich begann, mich umzusehen. »Haben Sie die Liste?«
»Haben Sie ein Gesicht?«
»Nehmen Sie die nächste Straße links. Ich treffe Sie im vierten Haus auf der rechten Seite.«
Wir bogen links ein. Laut Straßenschild in die Maple Street. Sie sah genauso aus wie die Straße davor. Ohne Straßenschilder könnte man sich in diesem Vorstadtlabyrinth mühelos verlaufen. Ich fragte mich, wie oft die Bewohner wohl versehentlich in ein falsches Haus gegangen waren.
Das vierte Haus rechts sah genauso aus wie alle anderen, nur dass die Haustür offen stand.
Cassandra erwartete uns im Wohnzimmer. Die Frau, die vor uns stand, war klein und Anfang sechzig. Ihr graues Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr halb den Rücken hinunterreichten. |420| Eine Lesebrille hing an einer Kette um ihren Hals. Sie trug ein weites, blaues Kleid, das vom häufigen Waschen ausgebleicht war. In der Taille war es durch den Gurt der beiden Pistolen zusammengefasst, die sie links und rechts in Halftern auf der Hüfte trug. Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine Erdmutter mit einem außergewöhnlichen Standpunkt zum Waffenbesitzrecht.
Einen Moment lang sagten wir nichts. Wir waren wohl alle überrascht, dass wir lange genug gelebt hatten, um einander kennenzulernen.
»Sind Sie der Zauberer von Oz?«, fragte Benny.
Sie lächelte. »Mein Name ist Julia Platt«, sagte sie. »Früher war ich Leiterin der Analyseabteilung der CIA, als so etwas noch existierte. Nennen Sie mich Cassandra; auf den anderen Namen höre ich schon lange nicht mehr.«
»Was zum Teufel ist hier passiert?«, fragte Benny. »Ich hätte gerne eine Vorwarnung, falls mir die Eier abfallen werden.«
»Sie wurden verschleppt«, erklärte Cassandra und zeigte auf zwei abgewetzte
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