Bombay Smiles
Vorwort
von Nina Ruge
Ich konnte mich dem mystischen Sog dieses Lebensberichts nicht entziehen, vom ersten Satz an. Und Ihnen wird es genauso gehen. Weil er war - wie wir sind.
Jaume Sanllorente - vielleicht war er ein wenig exzentrischer als Sie. Vielleicht war er als Wirtschaftsjournalist mit ausgeprägtem Hang zum Nachtleben Barcelonas plus intensivem VIP-Kontakt weniger angepasst, weniger geerdet als Sie.
Doch das Grundmuster stimmt. Denn es ist durchwirkt mit jenen starken Fäden westlicher Selbstdefinition, die wir als selbstverständlich erachten. Er ist »völlig normal« in seinem Bestreben, größtmögliche Lebensqualität für sich zu erreichen. Worunter er nicht nur das eigene schwarz-elegante Motorrad versteht, sondern: persönliche Freiheit. Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Bindungen dürfen da nicht stören. Freundschaft mit Gleichgesinnten tut gut. Diskutieren gerne, Politisieren auch. Interesse für Yoga, sogar für Tiere. Doch die Frage nach den Wurzeln des Seins, die abgeschmackte
Frage nach dem Sinn, vielleicht sogar nach der eigenen Bestimmung im Leben, die ließ er links liegen. Nicht, weil er von besonderer Oberflächlichkeit gewesen ist - oder von spanischer Machismo-Ignoranz. Nein. Er war Teil unseres kollektiven Denk- und Gefühlsmusters. Da fiel er nicht aus dem Rahmen. Er war halt wie wir.
»Unsere Träume und Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen und Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden.« - Jaume trat sozusagen in die Fußstapfen Goethes, nämlich eine indische Reise an. Und die Fähigkeiten, die in ihm lagen, wurden offenbar. Es war eine Urlaubsreise und keineswegs eine Liebe auf den ersten Blick. Indien - Traumland oder Horrorland für Wesen westlicher Prägung. Für Jaume war es Horrorland. Doch die Frage eines Reiseführers: »Wissen Sie, wie Ihr Taj Mahal aussehen wird?«, erwies sich bereits als Vorbote dessen, was Jaume zu leisten imstande sein würde. Denn das Taj Mahal gilt als das »Bauwerk aus Liebe« schlechthin. Jaume begann in jenem Moment mit den Bauarbeiten für sein persönliches Taj Mahal.
Dazu musste er sich allerdings erst mal aus seinem Gefängnis befreien. Genauer gesagt, aus UNSEREM Gefängnis. Aus den Denk- und Gefühlsmustern, die unser Handeln alltäglich auf ein Zentrum hin steuern: auf uns selbst, auf unser Wohlergehen, auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung als Lebenssinn.
Um dieses egozentrische Weltbild zu weiten, um die Blickrichtung der Seele zu ändern, bedurfte es etlicher mystischer Schockerlebnisse in den Slums von Mumbai. Ja, er spricht von »mystischen Erfahrungen«, die in Drastik und Grauen dem Oscar-Wunder Slumdog Millionaire in nichts nachstehen. Babys werden ertränkt, weil sie Mädchen sind. Eine Frau wird von ihrem Mann halbtot geprügelt, weil sie so furchtbar unter eiternden Wunden an den Beinen leidet, dass sie nicht mehr betteln kann. Kinderseelen werden in abgewrackten Bordellen getötet, ihre Körper bis jenseits jeder Vorstellungskraft missbraucht und verstümmelt. Der Mensch als Vieh? Viecher untereinander tun sich so was nicht an.
Die Hölle auf Erden. Verrohung, moralisches Niemandsland. Eine Parallelwelt der Mitleidslosigkeit, für die sich niemand interessiert.
Genau das ist die Erfahrung, die Jaume »mystisch« nennt. Denn sie legt in ihm den Hebel um. Sie ändert die Blickrichtung. Er starrt nicht mehr auf sich selbst - sondern auf die, die niemand sieht.
Auf 40 Waisenkinder in einem Lager von Vasai, einem Dorf nördlich des menschenverachtenden 14-Millionen-Molochs Mumbai.
Er widmet sein Leben diesen Kindern. Was logischerweise zur Folge hat, dass er radikal aus seinem alten Leben springt, dass er Job, Kontinent und Lebensstandard wechselt.
Er hätte tun können, was so gut wie alle von uns tun, wenn sie abgrundtiefe Verlassenheit, aussichtsloses Leid gesehen haben: Wir drehen uns erschüttert um, flüchten nach Hause in unsere watteweiche heile Welt, versuchen zu verarbeiten und verdrängen dann. Nicht Jaume. Er entdeckte, dass seine Lebensfreude mit jedem kleinsten Fortschritt wuchs, mit jedem Kind, das gesund wurde - mit jedem, das die Schule und damit den Weg in ein etwas besseres Leben schaffte.
Jaume lebt heute in diesem Waisenhaus in Indien, arbeitet dort hart - härter als in den meisten europäischen Knochenjobs -, für die Non-Profit-Organisation »Mumbai Smiles«. Und er ist ein zutiefst zufriedener, ein glücklicher Mann.
Den Weg
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