Bombay Smiles
an. Sie hatte keine Schuhe und trug ein abgenutztes, sehr kurzes limonengrünes Unterhemd und einen netten granatapfelroten Rock mit weißer Blumenborte. Der Rock war an den Rändern ausgefranst, verlieh Pooja aber trotzdem ein festliches Aussehen, das so gar nicht zu der Umgebung aus Müll passen wollte.
Der Stadtteil, durch den wir beide gingen, heißt Matunga und liegt in Dharavi - eines der vielen Elendsviertel Bombays. Von den 20 Millionen Einwohnern
der Stadt leben 60 Prozent in winzigen Behausungen aus Karton, Eternitplatten und anderen, oft sehr gesundheitsschädlichen Materialien. Dharavi ist nicht nur das größte Elendsviertel Bombays, sondern ganz Asiens und - neben den Vorstädten im südafrikanischen Johannesburg und den Favelas im brasilianischen Rio de Janeiro - vermutlich eines der größten weltweit.
»Gleich sind wir da«, sagte Pooja lächelnd.
Einige Meter weiter vorne, an der Rückseite eines Bahnhofsgebäudes, spielte eine Jungengruppe unter lautem Jauchzen eine Partie Kricket. Zwischen Steinen, Farnkraut und Müll konnte man das Huschen der Ratten wahrnehmen, deren Anwesenheit in den meisten Slums von Bombay gängig ist.
Selbst für eine Inderin hatte Pooja eine sehr dunkle Hautfarbe. Ihre großen, glänzenden, schwarzen Augen wurden mit jedem Lächeln mandelförmiger, wirkten wie zwei liegende, mit Tusche gemalte Mondsicheln.
»Hier wohne ich«, sagte sie schließlich und zeigte auf eine Baracke aus Holz, Asbestplatten und rostigem Blech. Ein großes Stück Pappe war mit Draht an den Asbestplatten befestigt und diente als Tür. Davor lagen Hunderte von Mülltüten. Mir fiel ein, was ich über die Haupteinnahmequelle der Slumbewohner dieser Gegend gelesen hatte: Sie sammelten Abfall und verkauften ihn dann an Recyclingunternehmen.
Ich trat an Poojas Zuhause heran und warf mit schüchtern gesenktem Kopf einen Blick hinein. Ich sah zwei gefaltete Matratzen, die die Zeit sowie die Zähne irgendwelcher Nagetiere angefressen hatten. Auf einem Pressspanregal standen ordentlich aufgereiht ein paar Küchenutensilien und - kurioserweise - ein Fernsehapparat, der mit einem schmutzigen Vorleger abgedeckt war. Sonst nichts.
Hier also lebte Poojas Familie. Versunken in diesen Anblick spürte ich, wie mich eine Hand, es war nicht Poojas Hand, an der Schulter berührte. Ich drehte mich um und sah in das gütige, herrlich ebenmäßige Gesicht einer Frau. Sie musste wohl 30 Jahre alt sein, aber die Lebensumstände ließen sie 20 Jahre älter aussehen. Vermutlich handelte es sich um Poojas Mutter. Die Freudensprünge, die das Kind aufführte, weil es ihm gelungen war, einen Fremden nach Hause zu lotsen, schienen diese Annahme zu bestätigen.
Die Frau versuchte, mit mir zu sprechen, aber ich verstand keine Silbe Hindi und konnte sie nur anlächeln. Auf dieser Reise wurde mir immer deutlicher bewusst, wie wirkungsvoll ein Lächeln sein kann.
»Sie sagt, du sollst hineingehen und dich setzen. Sie bringt dir gleich etwas zu trinken«, sagte Pooja, und bot mir Platz auf einer Schilfgrasmatte an, die an vier Holzpfosten festgezurrt war.
»Nein, bitte nicht, ich möchte keine Umstände machen«, rief ich und dachte an den finanziellen
Kraftakt, den diese Leute vollbringen müssten, um mir ein Getränk zu kaufen. Aber mein Einwand kam zu spät, denn die Mutter war schon unterwegs.
Um die Wartezeit zu überbrücken, plauderte ich mit meiner kleinen Begleiterin, die über ein verehrungswürdiges Lächeln und einen wachen Blick verfügte.
»Amerika?«, fragte sie mich neugierig.
»Nein, ich komme aus Spanien.«
»Spanien«, wiederholte sie, sah zur Seite und tat als ob sie dieses Land kennen würde.
»Zu wie vielen wohnt ihr hier?«
»Zu neunt. Meine Mutter, mein Vater, mein großer Bruder, seine Frau, sein Baby, meine Schwester, ich, meine Großmutter und mein Onkel. Wir passen aber nicht alle ins Haus, deshalb schlafen manche von uns draußen.« Da erinnerte ich mich an die grauen Haufen am Straßenrand.
Eilig kamen zwei Frauen in wunderschönen rosa-und orangefarbenen Saris und mit Jasminblüten im Haar auf mich zu und hielten mir eine Flasche Thums Up hin - ein indisches Colagetränk.
Wir haben viel von ihnen zu lernen, dachte ich. Jedenfalls stünde uns auf einer Reise hierhin eine Portion Demut gut zu Gesicht. Gerade erteilten mir nämlich die Ärmsten des Landes eine wahre Lektion der Großzügigkeit. Wären sie wohl immer noch so großzügig, wenn sie plötzlich reich würden?
Durch die
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