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Bombay Smiles

Bombay Smiles

Titel: Bombay Smiles Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Sanllorente
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Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert siedelten sie sich in Bombay an und bevölkerten die am höchsten gelegenen Stadtteile. Schätzungen zufolge leben heute fast 70 000 Parsen in der Stadt, die meisten von ihnen in der Nähe ihrer Kultstätten, zu denen Nichtgläubige keinen Zutritt haben.
    Ich wollte mehr über diese Bevölkerungsgruppe erfahren und hatte an diesem Morgen beschlossen, die Hälfte meines Tages dem Besuch der Orte zu widmen, die für die Parsen wichtig sind.
    Der Zufall schenkte mir immer wieder sehr schöne Eindrücke von der Stadt, aber die Bilder von Pooja und ihren Freunden aus dem Slum gingen mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Allmählich sickerten vollkommen unbekannte Empfindungen in mein Unterbewusstsein, einige von weit her, andere von ganz nah. Ein neues Fühlen bemächtigte sich meiner, und mein Herz saugte es auf wie ein Ertrinkender. Alles schien an diesem Morgen mit dem vorangegangenen Abend in Verbindung zu stehen: jede Geste, jeder Blick, jede Farbe … In jedem Blinzeln von Kinderaugen am Straßenrand erkannte ich
Poojas wachen Blick und in jedem ernsten Gesicht den Schmerz der Frau mit dem wunden Bein. So sehr ich auch versuchte, an etwas anderes zu denken, meine Seele ließ sich nicht ablenken.
    »Wir sind angekommen. Das sind die Türme des Schweigens«, sagte der Taxifahrer, als er anhielt.
    Die Türme des Schweigens sind hohe Säulen, auf denen die Parsen ihrem Bestattungsritual entsprechend die Toten aufbahren, damit sie von Raben und Geiern gefressen werden. Das Feuer gilt dieser Glaubensgemeinschaft als heilig, ebenso wie Wasser und Erde. Wenn also ihre Angehörigen aus unserer Welt scheiden, können die Parsen sie weder verbrennen, noch beerdigen oder in den Fluss werfen, denn sie wollen die Elemente nicht unrein machen.
    Die Türme des Schweigens sind umstritten. Da es immer weniger Geier in der Stadt gibt, kommt es vor, dass die Leichname tagelang der Verwesung preisgegeben sind. Weder Solarreflektoren noch chemische Hilfsmittel, die die Parsen mittlerweile einsetzen, haben die Proteste der Anwohner, die sich über den Geruch nach Verwesung beschweren, zum Verstummen bringen können.
    »Guten Tag. Ich komme aus Spanien und möchte gerne die Türme des Schweigens besichtigen«, sagte ich ganz unschuldig. Da entgegnete der Wächter bestimmt, der Zutritt aufs Gelände - dessen Eingang zu meiner Überraschung an die Pforten zu einem kostbaren Palastgarten erinnerte - sei lediglich
für Parsen erlaubt. Kurz fühlte ich mich betrogen. Seit dem Antritt meiner Reise, wollte ich diese Türme sehen. Ich verstand aber sofort, dass ich die Privatsphäre dieser Gemeinschaft zu respektieren hatte. Ja, es kam mir sogar abartig von mir vor, die Säulen mit den verwesenden Leichen besichtigen zu wollen.
    Gedanklich noch immer in Dharavi, fuhr ich zurück nach Colaba. Stets wenn ich die Augen schloss, befand ich mich am anderen Ende der Stadt, in den Slums, diesem grauen Ozean staubigen Elends, dem Sammelbecken düsterer Zukunftsaussichten. Je mehr Inder ich kennenlernte, und je mehr ich über die Lebenssituation der Millionen von Slumbewohnern erfuhr, desto drängender wurde mein Wunsch, nicht nur tatenlos zuzusehen, sondern noch mehr Informationen zu sammeln. Als ich dabei herausfand, dass es eine Art Mafia gab, die den Menschen in den Slums sogar für die Unterkunft in den Elendsbaracken Schutzgelder abverlangte, war ich entsetzt.
    Während der Taxifahrt zurück ins Hotel las ich einen Zeitungsartikel über die Slums. Er stammte von Mukesh Mehta, dem Geschäftsführer einer angesehenen indischen Consultingfirma, der einen allseits bekannten sowie viel diskutierten Plan zum Bau würdiger Behausungen im Elendsviertel von Dharavi entworfen hatte. Die Zahlen, die Mehta nannte, bestätigten die Angaben, die ich bereits kannte und oft für Übertreibungen gehalten hatte.
Vielleicht hätte es mich getröstet, wenn sie tatsächlich überzogen und die Realität nicht ganz so grausam wie behauptet gewesen wäre.
    In den Elendsvierteln Bombays finden 1,2 Millionen Familien Zuflucht - falls man diesen Elendsflecken überhaupt als Zuflucht bezeichnen mag. Es leben also auf einer Fläche von 3 500 Hektar rund sieben Millionen Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Das Monatseinkommen dieser Familien (wobei eine durchschnittliche Familie in Bombay aus mindestens sieben Mitgliedern besteht) beläuft sich mit Mühe und Not auf umgerechnet 30 Euro. In den letzten Jahren ist die Zahl der Slumbewohner

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