Bombay Smiles
inneren Druck, mein Hals war wie zugeschnürt. Vollkommen kopflos, konnte ich mit dünner Stimme nur noch unzusammenhängende Wortfetzen stammeln.
Ich war beleidigt, in meiner Ehre gekränkt, betrogen von einer Welt, die mich glauben gemacht hatte, dass das Leben aus Motorradausflügen und hübschen jungen Spanierinnen bestand. Wenn doch all das hier auf derselben Weltbühne vor sich ging, weshalb hatte noch nie jemand diesen Vorhang für mich beiseite geschoben? Wie sollte ich mich jetzt bloß verhalten? Sollte ich wie die unschuldigen Kinder grinsen oder wie ihre Mütter verzweifelt in Tränen ausbrechen?
Ich kam mir vor wie in einem jener Albträume, in denen die Gesichter erst näher kommen, dann wieder zurückweichen, undeutlich werden, sich verzerren, während das Stimmengewirr anschwillt und wieder verebbt, als käme es aus einem riesigen Verstärker.
Eiskalter Schweiß lief mir über die Stirn. Weder wusste ich, was ich sagen, noch was ich tun sollte. Reglos stand ich da, in der Hoffnung, bald aufzuwachen.
Es war kein Traum. Ich befand mich mitten im erschütternden Alltag dieser Stadt. In einer Wirklichkeit, die vom Schicksalsgedanken bestimmt wurde.
An diesem Abend konnte ich nichts essen. Auch am nächsten Morgen bekam ich nichts hinunter - genau wie in jenen zwei Tagen, die auf meinen ersten Kontakt mit den Bombayer Slums folgten. Anfangs glaubte ich, meine Appetitlosigkeit sei durch den Ekel verursacht worden, den das eiternde Bein in mir ausgelöst hatte. Aber mit der Zeit stellte ich fest, dass der Gedanke an das faulende Fleisch jener Frau keinerlei Schrecken in mir hinterließ. Was mich wirklich krank machte, war die himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Mein Unwohlsein war Ausdruck meiner Weigerung, eine Situation zu akzeptieren, die mir im 21. Jahrhundert vollkommen inakzeptabel erschien und für die ich mich verantwortlich fühlte. Mit der Übelkeit, die mich tagelang in Schach hielt, wollte ich mich sicherlich auch gegen Bilder wehren, für die ich keinen Platz in meinem Innern fand. Aber so sehr ich auch versuchte, mich abzulenken - die Empfindungen hatten sich in meiner Seele festgesetzt.
Wo war das Lächeln geblieben? Wo die Kinder, die so glücklich waren, obwohl sie nichts besaßen? Was war mit dem herzlichen Land, das aus allen Poren Frieden verströmte? Wo befanden sich Zufriedenheit und Gleichgewicht? Doch nicht in diesem verzweifelten Weinen? Und was war mit Meditation und Transzendenz?
Ich kam zu dem Schluss, dass diese Kinder fröhlich, aber nicht glücklich waren. Fröhlichkeit war eine gute Grundeinstellung im Leben. Aber glücklich konnte man nur werden, wenn man verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl hatte. Und die hatten diese Kinder nicht.
Ich stellte mir meine Eltern, meine Großmutter, meine Freunde in einer ähnlichen Situation vor, und bleischwerer Kummer überkam mich, drückte mich auf den verrotteten Boden nieder. Ich begann zu erkennen, was diese Menschen waren: Eine Fortsetzung von uns. Und auch wir sind nur eine Fortsetzung von ihnen. Und gemeinsam bilden wir einen Teil desselben Universums.
Wir sollten jeden Menschen ehren, als wäre er unser eigenes Kind, unser Bruder. Erst dann werden wir in jeder Stimme und in jedem Blick einen Appell an unsere Liebe erkennen.
5
Kavita
Wenn du einen Baum betrachtest und sagst,
es sei eine Eiche oder eine Feige, dann sollte
dir klar sein, dass diese Baumbezeichnung,
ein Bestandteil des botanischen Wissens,
dein Bewusstsein beeinflusst hat. Und zwar
derart, dass es sich zwischen dich und deine
Wahrnehmung des Baumes stellt. Um mit
dem Baum in Kontakt zu treten, müssen wir
ihn mit der Hand berühren. Ein Wort wird uns
nicht dabei helfen, ihn zu empfinden.
KRISHNAMURTI
Das Taxi fuhr für Bombayer Verhältnisse ungewöhnlich langsam den Marine Drive entlang. Am Horizont sah man den Malabar-Hügel, der sich mit seinen prächtigen Bauten, die von Tausenden von Parsen und den Reichsten des Landes bewohnt werden, stolz über das Arabische Meer erhebt.
Die Parsen sind eine der einflussreichsten ethnoreligiösen Gemeinschaften Bombays. Obwohl diese Glaubensgemeinschaft in den letzten Jahren stark
geschrumpft ist, da Parsen nur untereinander heiraten dürfen und Kinder aus Mischehen nicht als Parsen gelten, haben sie in der Hauptstadt von Maharashtra noch immer großen Einfluss und einen sehr guten Ruf. Sie sind die Nachfolger der persischen Zoroastrier, die vor über 1300 Jahren auf der Flucht vor Muslimen nach Indien kamen.
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