Bombenbrut
wollen. Sie treten beschwerlich in die Pedale ihrer alten Stahlrösser, die zum Teil beladen sind wie Packesel der Schweizer Bergarmee. Dazu knattern um den weißen 500er Mercedes unzählige kleine Mopeds. Auf manchen der Zweiräder halten sich gleich mehrere Personen aneinander fest, oft die gesamte Familie auf einer einzigen schmalen Mopedbank, die ursprünglich für nur zwei Personen gebaut wurde.
Alle Fahrer, ob auf dem Rad, dem Moped oder im Auto, jagen in jede Lücke der vollgestopften Straße, als würden sie während eines Grand-Prix-Rennens um die Poleposition kämpfen. Gegen den selbst ausstoßenden Smog und Gestank haben sich die Hunderte von Moped-und Radfahrern ein weißes Tuch vor Nase und Mund gebunden. Sie sehen aus wie eine OP-Brigade vor dem Eingriff. Den noblen, hupenden Mercedes beachten sie kaum. Jeder ist nur bemüht, dass er unbeschadet und schnell vorwärtskommt.
Björn Otto kennt dieses wuselige Bild. Er sitzt im Fond seines klimatisierten Daimlers und blättert in der ›Berliner Zeitung‹, die ihn aber eigentlich auch schon längst nicht mehr interessiert. Seit zehn Jahren wohnt er in diesem Sieben-Millionen-Moloch von Ho-Chi-Minh-Stadt, im Süden Vietnams, und da wird er so schnell auch kaum wegkommen. Die Geschäfte laufen zu gut, ein Ende ist nicht abzusehen.
Nicht nur zu Hause, im fernen Deutschland, zählt sein Unternehmen DigDat zu den günstigsten Datenverarbeitern. Längst hat sich sein Angebot weltweit herumgesprochen. So günstig wie DigDat mit seinen hundert Vietnamesen Daten speichert, verarbeitet und vor allem, wenn es sein muss, auch mal abgleicht, so günstig ist weltweit kein zweiter, und schon gar nicht so diskret. Längst kennen selbst die Inder ihren Marktwert, auch die Thailänder, jetzt sind die Vietnamesen in der untersten Lohnstufe obenauf. Für keine 100 Euro im Monat arbeiten sie 30 Tage fast rund um die Uhr.
Björn Otto hat die kostengünstigste Lösung im offiziell sozialistischen Vietnam für die kapitalistische Welt gefunden. Er war schon in Vietnam, als die Mauer in Berlin noch stand. Damals war er im Auftrag des APN, des ›Außenpolitischen Nachrichtendienstes‹ der DDR, zum Wohle der Völkerfreundschaft unterwegs.
Heute ist er Computerspezialist. Schon bevor die meisten Menschen wussten, was digitale Datenspeicherung heißt, hat er sich im Auftrag des MfS in Berlin um Datensammlung im großen Stil gekümmert. Genauer: Er war einer der aufstrebenden, jungen Offiziere des SWT, des ›Sektors wissenschaftlich technische Aufklärung‹. Diese Abteilung war der Hauptverwaltung Aufklärung unterstellt, zählte aber mit der zunehmenden Digitalisierung immer mehr zum wichtigsten Standbein des DDR Ministeriums für Staatssicherheit.
Björn Otto hatte seine Affinität zur Computerwelt frühzeitig genutzt. Er war noch ein kleiner Mitarbeiter der Stasi, als die ersten IBM Computer in die DDR gebracht worden waren und in Karl-Marx-Stadt im Kombinat Robotron zerlegt wurden. Schnell war den verantwortlichen Offizieren klar, dass diese Teufelsgeräte in der DDR produziert werden mussten, wollte man den Anschluss an die Weltentwicklung nicht verpassen.
Doch Björn Otto interessierte etwas ganz anderes. Er war sich schnell bewusst darüber, dass diese Geräte die Informationsflut des MfS kontrollieren konnten. Ihm war gleichgültig, woher die Geräte kamen, das gigantische Potenzial, das auf den Festplatten gehortet werden konnte, war ihm viel wichtiger. Wer auf ihnen gespeichert war, der ließ sich vortrefflich verwalten und überwachen.
Björn Otto schmunzelt und legt die ›Berliner Zeitung‹ neben sich. Gerade hat er die Überschrift ›Datenskandal bei Telekom‹ gelesen. Oft genug hatte er in Deutschland gepredigt, die Firmen sollten alle ihre Daten in Vietnam speichern und hier in seinen Servern bearbeiten lassen. Schon allein dieses Unwort amüsiert ihn: ›Datenskandal!‹ – Solch einen Begriff gibt es in Vietnam nicht. Denn wo es keine Gesetze gibt, gibt es auch keinen Skandal. Hier am Saigon River ist die Welt noch einfach gestrickt.
Er hatte schnell erfahren, dass nach dem Zusammenbruch der DDR sein Know-how auch im Westen gefragt war. Was die Stasi, dank den Abschnittsbevollmächtigten, an Informationen über jeden einzelnen Bürger sammelte, will im Westen auch jeder Kaufmann an der Ecke wissen: Welche Zigarettenmarke raucht Herr Müller, welchen Sekt bevorzugt Frau Maier oder benötigt Familie Huber nicht bald einen neuen Fernseher? Abgesehen
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