Bone 02 - Das Ende des Himmels
Ihre Blick wanderte von seinem Gesicht zu einem Punkt hinter seinen Schultern, und sie hob eine Hand zum Mund.
Stolperzunge spürte, wie die »Brücke« wackelte und nach rechts bewegt wurde. Er fiel auf den Bauch, und sein Kopf hing über der Kante, sodass er in die endlose Tiefe starrte.
Indrani schrie auf. Dann beruhigte sich die »Brücke« wieder, und Stolperzunge hörte hinter sich die Stimme eines Mannes. Er sprach so leise, dass er kaum Stolperzunges Keuchen und das Hämmern seines Herzens übertönte.
Dann antwortete Indrani in ihrer Sprache. Der Jäger wollte sich auf die Knie erheben, um zu sehen, wer hinter ihm war. Vermutlich Wärter. Stolperzunge verfluchte sich, weil sie nun seinetwegen vielleicht alles verlieren würden. Doch die Erinnerung an den Ruck, mit dem sich die »Brücke« plötzlich bewegt hatte … Er hatte immer noch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er spürte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Er legte das Gesicht wieder auf die eiskalte Metallfläche. Indrani sprach weiterhin mit dem Fremden, aber sie klang jetzt nicht mehr so besorgt.
»Schto-pe-sung?«
Er blickte auf, doch vor seinen Augen verschwamm alles. Ihm war übel, und er schämte sich für seine Schwäche.
»Er sagt, ist gut. Er dich nicht jagen, wenn du ihn nicht jagen. Ist gut? Schto-pe-sung?«
Er schluckte. Seine Kehle fühlte sich völlig trocken an, als wäre sie zusammengeklebt.
»W-wer ist es?«, flüsterte er.
»Wärter. Hanuman.«
Er wagte einen Blick über die Schulter und erkannte den Anführer der Wärter wieder, die sie mit den seltsamen Metallschleudern in die Enge getrieben hatten. Jetzt sah der Mann ganz anders aus. Er hatte seine Uniform durch Kleidung ersetzt, die er offenbar den Toten abgenommen hatte. Dieser Wärter war kein Dummkopf. Zu Anfang hatte er den Jäger unterschätzt, doch sobald er mitbekommen hatte, dass Stolperzunge und Indrani wussten, wie man die Masken benutzte, hatte er dafür gesorgt, dass sie ihn nicht auf diese Weise erwischen konnten. Dann war er nicht tiefer ins Labyrinth des Obergeschosses geflüchtet, um sich aus dem Staub zu machen, sondern war umgekehrt und hatte sie auf traditionellere Art verfolgt, wahrscheinlich indem er nach ihren Fackeln Ausschau gehalten und auf das Wimmern ihres Babys gelauscht hatte.
Dann musste ihm klar geworden sein, dass sie seine einzige Chance darstellten, den Rückweg ins Untergeschoss zu finden. Trotzdem hatte er es nicht gewagt, sich ihnen offen zu zeigen, bis sich der Jäger in eine prekäre Situation gebracht hatte. Jetzt hatte Hanuman etwas, das er als Verhandlungsmasse nutzen konnte.
Er schluckte, als Stolperzunge ihm in die Augen blickte. Wenn der Wärter seinen Feind in den Abgrund stürzen ließ , hatte auch er keine Möglichkeit mehr, ihn zu überqueren.
»Also gut«, sagte Stolperzunge. »Er k-kann kommen, wenn er das will.« Irgendwie schaffte er es, seine Angst in den Hintergrund zu drängen. Dann richtete er den Blick auf Indrani und kroch weiter. Die »Brücke« fühlte sich nun stabiler an als zuvor. Dann wurde ihm klar, dass Hanuman sie offenbar am anderen Ende für ihn festhielt. Das gab ihm die Kraft zum Weitermachen. Und schon wenig später, wie es schien, lag er vor seiner Frau auf dem Boden und dankte sämtlichen Vorfahren, die ihm einfielen, für seine Unversehrtheit. Er rührte sich nicht, bis Indrani ihm seine Krücke reichte und ihm sagte, dass er aufstehen sollte. Hanuman war auf dem Weg zu ihnen, und sie wollte nicht, dass er einen schwachen Eindruck machte.
Aber ich bin schwach , dachte er. Seine Kehle brannte. Für einen vollen Wasserschlauch hätte er töten können.
Doch schließlich befanden sich drei Erwachsene und ein Baby auf der anderen Seite des Abgrunds.
»Wir sollten die B-brücke hinunterstoßen, wenn er hier ist«, sagte Stolperzunge.
Indrani gab die Bedenken des Wärters weiter. »Er will nicht Krach«, sagte sie und zeigte nach unten. »Seine Freunde sehen, er mit uns jagt, viel sehr schlecht für ihn! Kein Krach unten!«
Stolperzunge zuckte mit den Schultern. Seine Frau war bereits auf dem Weg zum nächsten Durchgang.
Wieder rebellierte sein Magen, als er ihr hindurchfolgte. Nun standen sie auf einer Plattform innerhalb des riesigen Schachts, den sie zuvor nur durch den Schleimvorhang gesehen hatten. Er war fünfzig Mannslängen breit und kreisrund. Für den Jäger war es nahezu unmöglich, genau nach oben oder nach unten zu blicken. Aber er wollte vor dem Wärter keine Schwächen
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