Bonita Avenue (German Edition)
ihn an und sagte, er habe zu Hause achthundert Jazz-Platten, original amerikanische Pressungen, dickes pechschwarzes Vinyl mit Hüllen aus festem Karton, die könne er haben «für einen Gulden das Stück», woraufhin Aaron fast an die Decke ging vor brennendem Begehren. «Ruf mich an», hatte der Mann gesagt, und das tat er noch am selben Abend, und er rief ihn auch weiterhin an, erst zweimal die Woche, dann zweimal im Monat, kurze, freundliche, eilige Gespräche, in denen der Mann immer sagte, er habe gerade zu viel um die Ohren, oder dass er auf gepackten Koffern sitze, um in die Staaten zu reisen, oder er sei krank beziehungsweise werde das bald sein, «ruf mich demnächst wieder an», doch demnächst wurde zu einer immer größeren Hürde, die Gespräche bekamen etwas Gereiztes – bis Aaron nicht mehr an ein Treffen glaubte. Schieb dir die Platten meinetwegen sonst wohin. Jetzt aber unternahm er noch einen letzten Versuch und fuhr mit dem Fahrrad raus nach Boekelo. Am Ende des Dorfs klingelte er an der Tür einer Seniorenwohnung, deren Adresse mit der auf der faserigen Visitenkarte übereinstimmte. Ein Türke öffnete die Tür.
Also plünderte er die CD-Abteilung der Mediathek und vertiefte sich, wenn Joni nicht bei ihm war, in die Geschichte des Jazz, als müsste er das Programm für das North Sea Jazz Festival auf die Beine stellen. Konzentriert arbeitete er die Artikel über die Künstler ab, las zuerst über die Granaten, denen die meisten Seiten gewidmet waren, die Parkers, Ellingtons, Monks, Coltranes, die Davisse, anschließend über die übrigen Stars aus den goldenen fünfziger Jahren, Fitzgerald, Evans, Rollins, Jazz Messengers, Powell, Gillespie, Getz. Er legte ihre Platten auf, notierte biographische Besonderheiten in einem Heft, prägte sich Plattenlabel ein, Blue Note, Riverside, Impulse!, Verve, Prestige. Es war wie zu Beginn seines ersten Studiums, nur mit dem Unterschied, dass man für den scheißdicken Kapellekensweg von Louis Paul Boon drei Wochen brauchte und für Giant Steps nur siebenunddreißig Minuten und drei Sekunden. Bücher waren in der ersten Hälfte der neunziger Jahre seine Hauptbeschäftigung gewesen, monomanes Lesen, ganze Abende lang, an Bushaltestellen, in Wartezimmern, wenn er nachts wach war: Titel abhakend, komplette Œuvres verschlingend, fünf Jahre Zwangsarbeit, um sein Utrechter Scheitern wiedergutzumachen – jetzt brachte er sich innerhalb von fünf Wochen auf den Stand. Danach wusste er, dass das Eis dick genug war. Weitere fünf Wochen später stand er neben Sigerius in der Jazzkneipe De Tor und lauschte, an einem Whisky nippend und im Vertrauen auf das Jazz-Implantat aus Silikon, dem Piet Noordijk Kwartet.
Betrug? Natürlich. Aber in diesem Bauernhaus logen alle. Die gesamte Familie rang verstohlen mit der Wahrheit. Obwohl er wusste, dass es eine fadenscheinige Entschuldigung war, sagte er sich, dass jeder im Bauernhaus seine Geheimnisse gehabt hatte – Sigerius, Tineke, Joni, er, jeder verschwieg etwas. Wie lange hatte er nicht gewusst, dass Janis und Joni gar nicht Sigerius’ Töchter waren? Lange. Und am liebsten hätte man es ihm nie gesagt. Über die tatsächlichen Familienbande wurde nicht gesprochen. Manchmal konnte der Eindruck entstehen, dass sie darüber selber nichts mehr wussten.
Es dauerte mindestens ein Jahr, bis Joni ihm während eines Wochenendes in den Wäldern von Drenthe erzählte, dass ihre «Erzeuger» sich hatten scheiden lassen, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Mehr noch als diese Neuigkeit erstaunte ihn, dass sie erst nach so langer Zeit mit so etwas relativ Normalem wie geschiedenen Eltern herausrückte, doch weil sie darüber ziemlich ernst und für ihre Verhältnisse bedrückt berichtete, hatte er sie das nicht spüren lassen. Sie wohnten in einem abgelegenen, farbig gestrichenen Holzferienhaus, rund zwanzig Kilometer südlich von Assen, und offenbar hatte die dick aufgetragene Romantik aus Abgeschiedenheit und einem mit Holz befeuerten Ofen einen förderlichen Einfluss auf ihre Gesprächigkeit. Während eines winterfrischen Waldspaziergangs sollte er raten, mit welchem ihrer beiden Eltern sie biologisch verwandt war – na los, sag schon, Siem oder Tineke? Da fragst du mich was, erwiderte er, doch eigentlich fiel ihm die Antwort leicht. Mit Sigerius natürlich.
«Woraus schließt du das?»
«Das denke ich mir eben. Es ist reine Spekulation. Äußerlich siehst du ihm nicht ähnlich, aber deiner Mutter auch nicht. Ihr seid
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