Bonita Avenue (German Edition)
ersten Frau, einer Margriet, und ihrem gemeinsamen Sohn, der also Wilbert hieß, in der Antonius Matthaeuslaan Nummer 59 a, im Obergeschoss folglich. Und darunter, in Nummer 59, wohnte Tineke mit diesem Theun und ihren beiden Töchtern.
Sie erinnerte sich an die Streitereien zwischen Sigerius und Margriet über ihnen, an gegenseitige Beschimpfungen, die sie Wort für Wort verstehen konnte, wenn sie neben Tineke und Janis in ihrem Kinderstuhl an der langen Küchentheke Joghurt mit Zucker aß, genau wie an die unheimlichen Brüllanfälle von Wilbert, hysterisch donnerndes Gestampfe, die schrille Heulstimme von Margriet. Nach einigen Jahren mündete diese Nachbarschaft in ein klassisches Scheidungsdrama: Tineke und Siem, die Nachbarin von unten und der Nachbar von oben, verliebten sich ineinander und wurden von Wilberts Mutter in flagranti erwischt, dieser Margriet also, obwohl Joni die Details nicht kannte.
«Ehebrecher, Schweine», sagte Aaron.
Bevor das Ganze explodierte, walzte der Krachmacher von oben regelmäßig durch ihre Erdgeschosswohnung in den gepflasterten Innenhof, wo er Erdbeerpflanzen zertrat und Blumentöpfe umstieß. Er roch nach süßer Seife. Nach der Scheidung, meinte Joni sich zu erinnern, übernachtete Wilbert bei ihnen nur ein einziges Mal. Auch damit war es selbstverständlich vorbei, als sie mit Sigerius nach Amerika gingen.
Im Fotoalbum aus dieser Zeit sah Aaron einen hochgewachsenen Kobold mit rabenschwarzem Haar, den weit auseinanderstehenden Tintenaugen seines Vaters und unangenehm vollen Lippen, frech wie Straßendreck, das merkte man sofort. Erst später erfuhr Joni, dass er der Schrecken der Nachbarschaft gewesen war, ein Junge, der sogar ältere Kinder mit Leichtigkeit terrorisierte, sie dazu zwang, Kröten zu essen, die er gefangen hatte. Er zapfte Benzin aus geparkten Autos ab und machte daraus kleine Molotow-Cocktails, pinkelte in die Briefkästen von Seniorenwohnungen. Die kleine Tochter von Leuten aus der entfernteren Nachbarschaft brachte er dazu, Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter zu stehlen. Jonis einzige lebhafte Erinnerung an Wilberts Tatendrang war die an einen warmen Sommerabend, an dem er mit einem seiner Handlanger aus der Straße, vermutlich waren die beiden auf gut Glück durch die offene Eingangstür in die Parterrewohnung gelangt, auf einmal in ihrem Schlafzimmer stand. Sie hatten zwei riesige grüne Gummistiefel angeschleppt, wahrscheinlich die von Sigerius, der damals noch einfach der Nachbar von oben war, bis zum Rand hatten sie sie mit Buddelkastensand gefüllt. Mit einem gelben Kunststoffrohr stocherten die Jungs zwischen den Gitterstäben ihres Bettchens herum, brachten sie zum Weinen, und sobald sie ihren Dreijährigenmund weit aufgesperrt hatte, schütteten sie ihr den Sand ins Gesicht. Der körnige Geschmack, ja wie sich der Sand faustähnlich in ihre Kehle gebohrt hatte und ihr, feucht, kühl und dunkel, in Nase und Augen gerieselt war, sie sei beinahe dran erstickt, sagte sie.
Auf dem Nebengleis donnerte ein Güterzug vorbei. Erschrocken öffnete Tineke die Augen, zwei ohrenbetäubende Sekunden lang starrte sie ihn an. In Venlo hatte er Oxazepam geschluckt, aber er spürte, dass die Zwangsjacke um seinen Herzmuskel erneut festgezogen werden musste. Im Craquelé ihrer blauen Iris war alles Mögliche zu sehen: Ablehnung, Verachtung, Enttäuschung. Arroganz. Schaudernd schlug sie die Revers ihres Blazers übereinander und schloss die Augen wieder. Er sammelte Spucke in seinem Mund und fischte das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Den Blick auf Tinekes geschlossene Augen gerichtet, holte er einen Blister Oxazepam hervor und drückte zwei Tabletten aus dem Stanniol. Das Mädchen im roten Kostüm beobachtete ihn, zum ersten Mal würdigte es ihn eines Blickes, hörte einen Moment auf zu kauen. Um ihre Lippen hatte sie mit einem schwarzen Stift eine Linie gezogen, vulgär, altmodisch, «schwarzer Gürtel in der Fellatiodisziplin» hatte Joni dergleichen schon im Jahrhundert zuvor genannt. Er steckte sich die Tabletten in den Mund und schickte sie mit Spucke in Richtung Magen.
Nicht lange nach Jonis Herzensergießung saßen er und Sigerius an der Ecke des langen Tresens in der Cafeteria des Sportzentrums, beide rosig vom heißen Duschen wieder mal nach einem Donnerstagabendtraining, er mit einem Glas Bier und einer Zigarette, Sigerius mit einem Tonic Water, weil er noch Arbeit vor sich hatte. Der Vater seiner Freundin in Freizeitkleidung: einem
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