Bonita Avenue (German Edition)
biologischen Vater. Aaron musste sie dazu drängen, ihm den Vornamen des Mannes zu nennen. «Theun.» «Theun», wiederholte er. «Theun Beers, okay. Und was war er von Beruf?» Ihr leiblicher Vater war Vertreter eines Importeurs von Tabakartikeln, unter dem Namensschild an ihrer Haustür stand das Wort «Rauchbedarf», und hinter zwei Türen des hohen Wohnzimmerschranks lagen, nach Marken geordnet, Stangen Zigaretten, die Beers auf dubiose Weise bezog und steuerfrei an verqualmte Typen weitergab, die zu allen möglichen Zeiten im Wohnzimmer ihre Bestellungen aufgaben, meistens dann, wenn Joni bereits im Bett lag. Ihr Vater war oft erst nach neun zu Hause, aß seine Buletten und Jägerschnitzel in Vertreterkneipen und Straßenrestaurants. Am Wochenende sahen sie ihn übrigens auch nur selten, sagte sie, dann probte er oder hatte einen Auftritt mit seiner Band, einer nicht völlig erfolglosen Blues-Band, in der er sang und Gitarre spielte.
«Blues? Hat er auch Platten aufgenommen?»
«Woher soll ich das wissen? Ich glaube, ja.»
( Blues? – am liebsten wäre er zu sich in die Vluchtestraat gelaufen, um in seinen drei enzyklopädischen Jahrbüchern der Pop-Zeitschrift Oor Theun Beers nachzuschlagen. Eine Bluesband, mein Gott, das sagte sie ihm erst jetzt. Und tatsächlich, am nächsten Tag fand er in seinem ältesten Almanach unter dem Stichwort «Nederblues» einen dreizeiligen Eintrag über Beers und dessen Band: Mojo Mama, «Bluesrock-Formation um Frontmann und Gitarrist Theun Beers, die für kurze Zeit lokalen Kultstatus erwarb», seinerzeit «die Utrechter Antwort auf Cuby + Blizzards», veröffentlichte «drei LPs von unterschiedlicher Qualität», war «vor allem berühmt für ihre Liveacts». Als er das las, stellte er sich Tineke als Groupie vor, Jonis Mutter mit in etwa demselben Gewicht, das sie heute haben musste, Blumen im Haar, Plateauabsätze, backstage auf dem Schoß des großen Theun.)
Obwohl es bei Geburtstagsfeiern den Onkeln Vergnügen bereitete zu sagen, Theun werde jedenfalls nicht irgendwann aus dem Haus gehen, um eine Packung Zigaretten zu holen, war er lange vor der Trennung von der mit Janis schwangeren Tineke aus ihrem Leben verschwunden wie eine entlaufene Katze. Der Mann hatte in Jonis Erinnerung nie mit ihr unter einem Dach geschlafen, was natürlich nicht sein konnte, aber was soll’s.
«Denkst du manchmal an ihn?»
«Nie. Nur bei Gesprächen wie diesem hier. Nur wenn mich jemand fragt, ob ich manchmal an meinen leiblichen Vater denke, denke ich an meinen leiblichen Vater.»
Wann immer er sie nach dem Warum dieses Mantras fragte, wenn er wissen wollte: «Aber warum denkst du nie an Theun Beers?», etwa wenn sie sich zu zweit bei ihm in der Vluchtestraat die Sendung ansahen, in der verschwundene Familienmitglieder aufgespürt werden sollten, versicherte sie ihm, dass das nicht aus Groll der Fall sei oder aus Rache für etwas, das sie diesem Mann übelnehme, sie habe ihn auch nicht «verdrängt», nein, ihr Erzeuger sei einfach aus ihrem Leben verschwunden, ohne irgendeinen Eindruck zu hinterlassen, und das sei alles.
Erst am Sonntag ihres gemeinsamen Wochenendes in Drenthe, recht spät eigentlich, wenn man bedachte, dass die Frage so nahelag, wollte er von ihr wissen, ob auch Sigerius vorher schon einmal verheiratet gewesen sei. «Ja», erwiderte sie knapp. Sie hatten gerade ein bisschen lustlos ein Hunnengrabmuseum abgehakt und fuhren auf einem Radweg parallel zur Landstraße nebeneinander her. Er betätigte die Trommelbremsen seines Leihrads. «Warum sagst du das nicht gleich? Warum erzählst du mir so wenig?»
«Hab ich es dir nicht gerade erzählt?», rief sie, ohne anzuhalten. «Er hat außerdem noch einen Sohn.»
«Was sagst du?»
«Dass er einen Sohn hat.» Ohne abzusteigen, wendete sie und fuhr zu ihm zurück. «Einen Sohn, der Wilbert heißt. Wilbert Sigerius.»
«Ihr habt also einen Stiefbruder?»
«Wenn du es so nennen willst. Wir sehen ihn nie. Er führt sein eigenes Leben. Genau wie wir.»
Er bombardierte sie mit Fragen, aber sie konnte oder wollte ihm kaum etwas über diesen Wilbert mitteilen, obwohl sie die erste Zeit ihres Lebens in der Wohnung unter ihm gewohnt hatte. («In der Wohnung unter ihm?», rief er. «Erzähl schon. Na los.») Sie erzählte ihm eine verwickelte Geschichte, und er brauchte eine Weile, bis er alles genau verstanden hatte: Anfang der siebziger Jahre hatten beide Familien in derselben Straße in Utrecht gewohnt, Sigerius mit seiner
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