Bonita Avenue (German Edition)
Als er um halb elf nach Hause kam, erzählte er Joni, er habe den Verein vor die Wahl gestellt: Entweder glaubten sie ihr, oder mit dem Lauftraining sei Schluss; dann müssten sie sich überlegen, ob sie in dem Verein Mitglied bleibe.
Er erinnert sich genau daran, wo sie standen: in der Diele, er noch im Mantel, sein rechter Fuß auf der offenen Wendeltreppe, Joni auf halber Höhe, in der Hand die Zahnbürste, auf der schon Zahncreme war. Den Augenblick, als sie zusammenbrach, wird er nie vergessen. Nachdem er Bericht erstattet hatte, schwieg sie einen Moment. Dann ließ sie ihren Hintern auf eine Treppenstufe sacken, die Zahnbürste fiel ihr aus der Hand, tick, tock, klack: auf die Fliesen. Sie verbarg ihr Gesicht im Nachthemd und sagte mit einem langen Seufzer: «Papa?»
Er hob die Augenbrauen.
«Weißt du, du darfst nicht erschrecken, Paps. Ich, wie soll ich es sagen … na ja, eigentlich, was diese Mirjam sagt, das stimmt.»
Unter noch tropfenden Platanen geht er zum Okura. Er rempelt einen telefonierenden Geschäftsmann absichtlich an der Schulter an, weicht auf dem unebenen Bürgersteig Gemüseständen und von Straßenhunden zerbissenen Müllsäcken aus. Aus einer Seitenstraße tauchen fünf, sechs wieselflinke Chinesen auf, die ein großes lila Tuch auf den klatschnassen Platten ausbreiten. Im Handumdrehen liegen lacklederne Taschen, Ray-Ban-Sonnenbrillen, Gucci-Tops, Adidas-T-Shirts, CDs, DVDs und Computerspiele darauf. Alles Imitate. Er bleibt einen Moment stehen, weil sein kürzeres Motorrollerbein schmerzt, massiert die hinteren Oberschenkelmuskeln. Einer der Händler, ein Bursche mit einem überheblichen Gesichtsausdruck, spricht ihn in belferndem Mandarin an.
«Verzieh dich», erwidert er lächelnd.
Ist es schlimmer, gefälschte Taschen zu verkaufen oder Geld aus einer Sammelbüchse zu stehlen? Wie ist das überhaupt mit den Grautönen? Ist es sinnvoll und logisch, über Joni nachzudenken, über ein hypothetisches Problem – solange er nichts Genaues weiß, existiert es gar nicht –, während er doch sicher weiß, dass Wilbert aus dem Gefängnis entlassen wurde? Sich zwischen Autos hindurchschlängelnd, überquert er die vierspurige Huaihai Zhong Lu, biegt nach vierzig Metern links ab und geht an der verfallenen Art-déco-Fassade des Cathay Theatre entlang, einem Kino, vor dem eine Traube Chinesen auf den Einlass wartet, um sich Mission: Impossible II anzusehen. Was wird passieren, jetzt, wo der Junge wieder draußen ist? Was machen sechs Jahre Gefängnis aus einem Mann wie Wilbert Sigerius?
«Das wusste schon Hitler», antwortete Rufus Koperslager ihm in einer Zeit, als er diese Frage häufig stellte, meistens hinter vorgehaltener Hand, aber dafür jedem, von dem er eine halbwegs durchdachte Antwort erwartete. «Hitler hielt das Gefängnis für eine Verbrecher-Universität. Wussten Sie das nicht? Eine überdachte Gosse, in der die alten Hasen den Bürschchen das Handwerk beibringen.» Er musste an das erste Gespräch unter vier Augen denken, das er mit dem sonderbaren Rufus geführt hatte, eine Begegnung, die er lieber aus seiner Erinnerung getilgt hätte. «Kennen Sie Hitlers Tischgespräche?» Nein, Hitlers Tischgespräche waren ihm bisher noch nicht untergekommen. Mein Gott, Koperslager, ein hochdekorierter Polizeichef mit der kurzangebundenen Rechtschaffenheit des Gesetzeshüters, wurde 1995 Verwaltungsratsvorsitzender der Universität. Die Ernennung war nicht einvernehmlich, ein Büttel auf dem Campus, ein Mann, der vielleicht ein wenig direkt, zu ungeduldig und ans Herumkommandieren gewöhnt war, stählernen Befehlsstrukturen etwas abgewann. Aber auch ein Realist. Während des Auswahlverfahrens spitzte Sigerius die Ohren, als Koperslager ins Feld führte, er sei Anfang der achtziger Jahre Direktor von nicht weniger als zwei Gefängnissen gewesen, Heldentaten, die Sigerius so in Bann schlugen, dass er seinen neuen Kollegen gleich beim Imbiss, der dem besseren Kennenlernen diente, ins Vertrauen zog und ihm von seinem kriminellen Sohn erzählte. So war er seinerzeit. Das Herz auf der Zunge. Wilbert saß damals seit gut einem Jahr im Gefängnis, und im Verlauf dieses Jahres hatte Sigerius eine stille Obsession für alles entwickelt, was sich hinter Gittern abspielte: Jeden Zeitungsausschnitt, jedes Buch, jede Fernseh-Dokumentation, alles, was ihm Auskunft über das Gefängnisreglement und die Knastmoral geben konnte, verschlang er. «Sie sagten vorhin, dass Sie beruflich mit
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