Bonita Avenue (German Edition)
mein lieber Hiro», sagt er, «ich hab schon welches.» Vielleicht weil er zwei Tage nach dem Empfang noch keinen Schritt weitergekommen ist, lässt er seinen Frust an Obayashi aus. Leiser, mit einem gezwungenen Lächeln: «Und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass eure Rätsel in den Niederlanden ein Erfolg sein werden. Erinnerst du dich noch an Go? Bei uns keiner mehr. Das unglaublich spannende Brettspiel Go. Das kriegst du bei uns nur noch auf dem Flohmarkt.» Er hat keine Ahnung, ob das stimmt, aber wenn er jetzt keine deutlichen Worte findet, dann ist er im nächsten Sommer Handelsvertreter für Spiele. Sein Gesprächspartner scheint ein paar Augenblicke lang an seinem Verständnis der englischen Sprache zu zweifeln, dann sagt er: «Nippon Fun hat eine Computerversion von Go. Die kann ich dir auch schicken. Es sind zwei CD-ROMs.»
Am Nebentisch geht eine Kellnerin mit einer Teekanne herum, aus der der Schnabel eines Tropenvogels ragt, eine dünne, gebogene Tülle von mindestens einem Meter Länge, durch die das Mädchen aus einiger Distanz die Trinkschalen füllt. John Tyronne, der junge Stanford-Professor, winkt ihr mit einem ausladenden Armwedeln. Tyronne, ein talentierter Grünschnabel, war mit viel Trara in die Taskforce berufen worden, vor allem wegen seiner frühen und technisch gut fundierten Aufsätze über den Millennium-Bug, aber er war über das Ziel hinausgeschossen und hatte sich selbst keinen Gefallen getan mit seinen immer apokalyptischer werdenden Artikeln über das Jahr-2000-Computerproblem, die im Jahr zuvor in amerikanischen Zeitungen erschienen waren und mehr oder weniger das Szenarium durchspielten, dass die Erde aufhören werde, sich zu drehen. Weil Tyronne nach dem 31. Dezember 1999 nicht mehr mit dem Flugzeug reisen wollte, hatten sie das erste Treffen im Jahr 2000 verschoben. «Da ist ja unser Unheilsprophet», sagte der Taskforce-Vorsitzende Gao Jian lächelnd beim Wiedersehen in unserer unveränderten Welt. «Essen Sie immer noch ausschließlich Konserven?» Am Nachmittag, in seinem Vortrag über sogenannte haptics , frotzelte Sigerius, Tyronne müsse nie wieder fliegen. «Demnächst schließen wir eine Gummihand an deinem Laptop an, John, und wenn du die zu Hause drückst, schickt dein Computer dein Druckprofil zu einer speziellen Johnny-Tyronne-Taskforce-Gummihand hier in Shanghai, shake hands through cyberspace . Das Problem ist nur, dass es dabei eine kleine Zeitdifferenz gibt.» Und danach hatte er Tyronne, der in der ersten Reihe saß, eine Hand gegeben, die so schlaff war wie ein toter Fisch. «Fühlt sich schlecht an, was?» Eine Sekunde später drückte er zu – zu fest.
«Wäre ein japanischer Name nicht besser?», sagt er, um Obayashi eine Freude zu machen. «Etwas anderes als Number Place?»
Obayashi murmelt eine Antwort, die ihm vollständig entgeht. Für einen Moment hört er nichts, es liegt an der dämlichen Bemerkung von vorhin über die Go-CD-ROMs, die mit Verzögerung eine Phosphorflamme in seinem Kopf auflodern lässt. Er sitzt hier und isst Ente, während sein Laptop auf seinem Hotelbett liegt. Vielleicht ist die CD in deiner Laptoptasche. Vielleicht hast du die Fotos ja dabei. Er muss den Impuls unterdrücken, vom Tisch aufzuspringen und loszulaufen, quer durch die Wand aus Seewasser und Krebsen, hinaus und schnurstracks zum Okura. Stattdessen lächelt er zu Obayashi hinüber, wischt seine fettigen Finger an der Papierserviette ab und schließt die Augen. Denk nach. Steckt die CD mit den gebrannten Fotos etwa in deiner Laptoptasche? Keine Ahnung. Er stellt sich vor, er stehe in seinem Arbeitszimmer, der vertraute Geruch von abgelagertem Staub und Papier, die Ruhe seiner Mönchszelle. Er sieht seinen Schreibtisch vor sich. Das Ding könnte auch in der verschließbaren Metallschublade liegen.
Er schaut auf die Uhr, holt sein Handy aus der Innentasche. Ohne Obayashi anzusehen, löst er die Tastensperre und starrt ein paar Sekunden, in Grübeleien versunken, aufs aufleuchtende Display. « Excuse me », flüstert er und legt eine Hand auf den dicklichen Unterarm des Japaners. Obwohl er bis jetzt nur die groben Umrisse seiner Ausrede kennt, steht er auf und schließt den Knopf seines Sakkos. Ein Gedanke schießt ihm durch den Kopf: Die Polizei ruft ihn in China an, um ihm mitzuteilen, dass Wilbert enthauptet worden ist. Die Deichsel eines losgerissenen Anhängers. Auf der Stelle tot. Ohne den Gedanken weiterzudenken, räuspert er sich und sagt: «Meine
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