Bonita Avenue (German Edition)
Herren … es tut mir leid, dass ich Sie unterbreche … aber ich muss Sie leider allein lassen. Ich muss weg. Ich habe soeben die Nachricht erhalten, dass es … dass es in Enschede Probleme gibt …»
«Änsrrrédé?», ruft Tyronne, den er heute Nachmittag vielleicht ein wenig zu sehr aufgezogen hat. «Äns-rrré-dé … Sigerius, steht deine Universität etwa auf Nowaja Semlja?»
Gao Jian drückt seine Zigarette aus und zündet sich gleich eine neue an, lässt Rauch aus einem Mundwinkel entweichen und mustert ihn forschend. «Kollege», sagt er in ernstem Ton, «was ist passiert? Kann ich etwas für dich tun?»
«Ich fürchte, nein», hört er sich selbst sagen, und an die Nässe denkend, durch die er gleich muss, sagt er: «Mir wurde gerade berichtet, dass der Campus in Enschede unter Wasser steht. Gewitter in den Niederlanden, heftige Regenfälle – so wie hier heute, nur schlimmer.»
«Du verpasst das Abendprogramm.»
«Morgen ist ein neuer Tag. In Enschede erwartet man, dass ich eine Erklärung abgebe zu den … Schäden.»
Lauwarme Bindfäden schraffieren die Dämmerung über Shanghai. Gurgelnd sucht das Regenwasser nach Gullys und Abflüssen, klatscht an die Gehsteige der Huaihai Zhong Lu, auf denen Hunderte von Chinesen, ihre glatten Frisuren mit Schirmen und Aktentaschen schützend, mit akkuraten Schritten dahineilen. Besetzte Taxis werfen Fächer aus spiegelndem Wasser auf, in Eingängen und unter Vordächern haben sich Einkaufende untergestellt, deren Arme in Warenrispen enden; sie starren vor sich hin oder tauschen sich in kodierter Sprache aus. Die üblicherweise glühende, vibrierende, rauschende Straße mit ihren zahllosen Geschäften, Shopping-Malls, Hotels und Restaurants wirkt überdacht, so dunkel ist es.
Bei roter Fußgängerampel überquert er eine überschwemmte Kreuzung, läuft vor rasch beschleunigenden Taxis und Rikschas davon. Sein Jackett ist nahezu durchnässt, laues Regenwasser lässt die Spitzen seiner Schuhe morastig aussehen. Er macht große Schritte, eine merkwürdige Nervosität treibt ihn ins Hotel. Einerseits setzt er darauf, dass sein Verdacht mehr über ihn verrät als über Joni, dass das, was er gesehen hat, eine Projektion seiner Angst gewesen ist; andererseits ist er mit Rückschlägen ein kleines bisschen zu vertraut, als dass er sich ganz sicher wäre. So unterschiedlich seine Töchter auch sein mögen, die Frage, ob sie etwas taugen, hat er sich nie gestellt; das ist eine Frage, die einem Vater, dessen Sohn in Scheveningen im Gefängnis sitzt, nicht zusteht. Für Tinekes Töchter, die er als seine eigenen Töchter betrachtet, legt er die Hand ins Feuer, die linke für Janis, die rechte für Joni – die ältere, die alles mitbekommen hat, die im Leben auf wenig Widerstand stoßen wird, mit ihrer raschen Auffassungsgabe, ihrem Witz, ihrem Ehrgeiz und ihrem Charme, Letzterem vor allem, «mit mir kannst du Pferde stehlen», das steht in goldenen Buchstaben auf ihrer Stirn, und wenn man dazu noch ihre verflixte Schönheit nimmt, ihre außerordentliche Intelligenz, nein, über eine Tochter wie Joni macht sich der Vater eines kriminellen Sohns keine Sorgen. Wenn in seinem Bauernhaus überhaupt mal Sorgen um Tinekes Sprösslinge aufkamen, dann galten die Janis. Die Jüngere strahlt völlig andere Dinge aus; Janis hat es sich zur Aufgabe gemacht, andere Menschen nicht für sich einzunehmen, hegt einen oft unausstehlichen, programmatischen Hass auf alles, was angeblich nicht ehrlich ist, führt einen Ein-Mann-Guerillakrieg gegen alles, was falsch ist, Schwindel, Unaufrichtigkeit. Darum achtet sie nicht auf ihr Gewicht, darum trägt sie Männerkleidung, darum verabscheut sie mit so großer Leidenschaft: Geld, Fleischesser, Hollywoodfilme, gesattelte Pferde, Universitäten, Urlaub. Sie zerschnippelt die Weihnachtskarten, die Onkel und Tanten ihr schicken. Deodorant – Tineke hat sie dazu zwingen müssen, eins zu benutzen, als Jugendliche fand Janis es verlogen, den eigenen Geruch zu verbergen, das sei falsch, unnatürlich, Deodorant sei spießig. Sie jedenfalls sei ehrlich , versicherten Tineke und er einander.
Eine Wolke bricht, Sturzregen verwandelt sich in Hagel, der trommelnde Lärm ist so laut, dass der Verkehr sich lautlos vorwärtszuschieben scheint. Sigerius bleibt nichts anderes übrig, als unter einem triefenden Vordach Schutz zu suchen. Im dichten Menschengedränge nimmt er einen Geruch wahr, der ihn an die durchschwitzten Judomatten von früher
Weitere Kostenlose Bücher