Bonita Avenue (German Edition)
entgangen sein? War das möglich? Dass er es erst jetzt irgendwo gelesen oder im Fernsehen gehört hatte und dadurch angefangen hatte zu grübeln? Es wäre ein bizarres Szenario, die reine Ironie. Dass gerade Aaron nichts davon wusste, der Sekretär des Fanclubs persönlich. Ich las noch einmal den Abschnitt, in dem es um meinen Vater ging. Ließ die Frage, die er stellte, nämlich ob das ganze Elend nicht mit der Feuerwerkskatastrophe angefangen habe, auf mich einwirken. Ganz so daneben war das nicht. Wenn man sich vor Augen hielt, was nach dem 13. Mai 2000 mit uns dreien passiert war, könnte die Antwort durchaus ja lauten.
An dem Tag, als die Feuerwerksfabrik S. E. Fireworks in die Luft flog, waren wir alle drei nicht in Enschede; Siem war, wenn ich mich recht erinnere, aus beruflichen Gründen in Shanghai, Aaron und ich waren bei einer Hochzeit in Zaltbommel. Wir befanden uns in Sicherheit. Keiner von uns verlor sein Zuhause (auch wenn in Aarons Fall nur knapp fünfzehn Meter dazu fehlten), niemand hatte einen Arm oder ein Bein verloren. Trotzdem war auch ich geneigt zu glauben, dass dieser gnadenlose Schlag eine zerstörerische Wirkung auf uns hatte. Vielleicht ist es ein Gesetz, dass eine so gewaltige Explosion unvorhergesehene Mechanismen in Gang setzt, Druckwellen aussendet, die ihrerseits seltsame Entwicklungen verursachen, Missverständnisse hervorrufen, Entscheidungen herbeiführen. Es scheint, als ob sich Katastrophen von solchem Ausmaß wie kleine Urknalle verhalten, in deren Folge sich etwas zu sausenden Räumen voller Nachwirkungen, Machenschaften, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ausdehnt. Eine physikalische Katastrophe wie die Explosion der Feuerwerksfabrik ist ein Kreißsaal, in dem neue Katastrophen geboren werden.
Nicht, dass uns das an diesem Tag bewusst gewesen wäre – im Gegenteil. Am Tag selbst keinerlei Erkenntnisse. Aaron und ich saßen am Samstag, dem 13. Mai 2000, ganz gemütlich vor der Marzipanhochzeitstorte irgendeines Etienne, dem einzigen Gymnasialfreund, zu dem Aaron noch Kontakt hatte, und es kostete uns dort in Zaltbommel die allergrößte Mühe, überhaupt zu verstehen, was sich einhundertfünfzig Kilometer entfernt in unserem Wohnort abspielte. Weil wir zu den Gästen gehörten, die für den ganzen Tag geladen waren, beschlossen wir, die Stunde, in der sich das Brautpaar zurückzog, um Hochzeitsfotos machen zu lassen, in unserem Hotelzimmer zu verbringen. Auf der Treppe des Rathauses zwickte Aaron Etienne Vaessen in dessen speckige Taille und sagte ihm, das wir uns für eine Weile verdünnisieren würden.
Nicht lange bevor der Anstand es gebot, zu dem Landhaus zu fahren, in dem das Abendessen stattfinden sollte, schaltete ich den Fernseher ein. Es muss so gegen fünf gewesen sein, ich kam gerade aus der Dusche, Aaron stand im Badezimmer und fummelte an seinen Manschettenknöpfen. Ich zappte herum und sah auf drei Kanälen dieselben Nachrichtenbilder einer Stadt, wie man eine Stadt eben sieht, wenn man mit einer Boeing angeflogen kommt, und aus der Stadt stieg eine riesige schwarze Rauchwolke auf, das sah ich sehr wohl, und diese Stadt hieß Enschede, auch das registrierte ich. Als Aaron neben mir Platz nahm, zeigte man Bilder vom Boden, brennende Autos unter einem pechschwarzen Himmel, Polizisten, die verwirrte Menschen in kurzen Hosen aus einer mit Schutt übersäten Straße führten. Wenn er ein wenig genauer hingesehen hätte, dann hätte er bemerkt, dass die Straße Lasondersingel hieß, die war nicht einmal einhundertfünfzig Meter von seiner Wohnung entfernt. «Wir müssen zurück», sagte er, «die Grolsch-Brauerei plündern», ein Scherz, über den ich lächeln musste, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass die ausgetretenen Gehwege, die zu diesem Scherz führten, die mit Ziegelsteinen gepflasterten Straßen, über die wir an anderen Samstagen zum Roomweg gingen, um uns bei dem winzigen Chinesen Nasi Rames oder, ein Stück weiter, im Imbiss De Roombeker eine Portion Ras-Pommes mit Kräutersalz zu holen, Aarons tagtägliche Umgebung … weil es jenseits meines Vorstellungsvermögens lag, dass diese reaktionsträge, unantastbare, festgelegte Wirklichkeit nicht mehr existierte .
Der Akku meines Handys war leer, Aaron hatte damals noch keins. Im Hotelzimmer gab es einen pseudo-antiken Apparat aus Bakelit, eine mattschwarze Postkutsche mit einer Wählscheibe und einem Korkenzieherkabel. Ich versuchte, meine Eltern zu erreichen, kam aber sehr
Weitere Kostenlose Bücher