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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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schnell zu dem Schluss, dass das Telefonnetz rings um Enschede zusammengebrochen war. Aaron hielt es für überflüssig, in Venlo anzurufen. Hinterher hörten wir, dass viele Verwandte, Freunde und Bekannte darüber anders gedacht hatten. Ein Onkel, ein Bekannter seiner Mutter, sein Opa, sein Bruder Sebastiaan, ein Studienfreund, sein ehemaliger Judolehrer, die Mutter einer Ex-Freundin und ein Redakteur der Tubantia Weekly – sie alle hatten, wie wir später erfuhren, bei seinen Eltern angerufen, aufrichtig und zu Recht besorgte Menschen, die in verschiedenen Tonarten dieselbe Frage stellten: Lebt der Junge noch? Seine Mutter erreichte uns am Tag danach am Telefon meines Studentenwohnheims, vollkommen aufgelöst – die ganze Nacht hatte sie im Wohnzimmer verbracht, den Teletext verfolgt und die Wiederholungen der Nachrichtensendungen Nova und NOS - Journal gesehen, in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen. Sein Vater, berichtete Aaron mir später beinahe spöttisch, war weniger geduldig gewesen. «Ich fahre hin», hatte er um halb zehn gesagt, und ich sah vor mir, wie Aarons wettergegerbter, bärtiger Vater ohne jeden weiteren Kommentar seinen Tabaksbeutel und die Autoschlüssel vom Esstisch genommen hatte und in dem froschgrünen Toyota Corolla losgefahren war, mit dem er uns, wenn wir bei ihnen vorbeischauten, am Bahnhof in Venlo abholte. Selbstverständlich umsonst war der Mann, ein Konditor, auf dessen Unterarmen lauter Narben von hunderttausend glühend heißen Backblechen prangten, eine Stunde lang an den Absperrgittern entlanggegangen, Feuerwehrleute und Polizisten so lange mit Fragen löchernd, bis sie ihn weggeschickt hatten.
    «Dein Vater ist außer sich vor Wut», sagte seine Mutter.
    «Wie kann man nur mitten in der Nacht auf gut Glück nach Enschede fahren?»
    «Jetzt mach aber mal halblang. Dass du vergisst, uns anzurufen, ist schon schlimm genug. Du hättest immerhin tot sein können.»
    Höchstens vom Alkohol. Als sein Vater durch das brennende Enschede lief, feierte der vermisste Sohn in Zaltbommel ausgelassen und hemmungslos, trank Glas um Glas Rosé-Champagner, von dem man nicht pissen, sondern tanzen musste. Während in seinem Wohnviertel Rettungswagen ankamen und wieder abfuhren, verkündete er allen, die es hören wollten, Roombeek sei wie Fleisch, das man in Rama Culinesse brät, «es spritzt nicht, aber man muss dranbleiben». Als er, zwischen den Luftballons und den Plastikbierbechern, auf dem Fußboden lag und einen chinesischen Knallfrosch nachahmte, schleifte ich ihn an seiner Fahne von der Tanzfläche.
    Am nächsten Morgen im Auto berichteten alle Radiosender von nichts anderem als dem Schlachtfeld, zu dem wir unterwegs waren, und endlich in Enschede angekommen, fuhren wir, von einer ungewohnten Unruhe ergriffen, auf Roombeek zu. So wie Aarons Vater zwölf Stunden zuvor parkten wir an der Absperrung auf dem Mittelstreifen der Lasondersingel, weiter kamen wir nicht. Wir rochen Pulverdampf und betrachteten ungläubig die weggepusteten Ziegeldächer und abgebrochenen Schornsteine der Häuser, die die Druckwelle gerade noch überstanden hatten und uns den Blick auf den tatsächlichen Bombenkrater versperrten. Ins Gras des Mittelstreifens hatte sich ein verbogener Hochseecontainer gebohrt, der dort nur gelandet sein konnte, nachdem er im hohen Bogen über die Häuser geflogen war. Gegenüber dem in Mitleidenschaft gezogenen Rijksmuseum saß ein Mann auf einem Angelstuhl und starrte durchs Metallgitter. Er erzählte, dass das Feuer die Vluchtestraat verschont hatte. Neben ihm stand eine Thermoskanne mit Kaffee, aber ein Katastrophentourist war er nicht: Sein Haus befand sich in der H. B. Blijdensteinlaan, war einsturzgefährdet nach Meinung der Experten. Schweigend fuhren wir ins Zentrum. In der Küche des Studentenwohnheims lauschten wir den Berichten meiner Mitbewohner; eine von ihnen war im Moment der Explosion mit dem Kleinbus des Heims auf der Deurningerstraat unterwegs gewesen und hatte beobachtet, wie ein Betonklotz ins Dach des vor ihr fahrenden Wagens krachte.
    «Schade, dass wir nicht zu Hause waren», sagte Aaron mit unverhohlenem Bedauern in der Stimme. «So was will man eigentlich nicht verpassen.»
     
    Man hatte Ennio mit schweren Brand- und Schnittverletzungen in einem Rettungshubschrauber zum Universitätsklinikum in Groningen geflogen. Meine Mutter erzählte mir das eine Woche nach der Feuerwerkskatastrophe so ganz nebenbei. Wir standen in der Waschküche des Bauernhauses,

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