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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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Aaron und ich wohnten schon seit ein paar Tagen bei meinen Eltern. Sie stopfte die Trockenschleuder mit Bettwäsche voll, tatsächlich aber schleuderte sie mich. Diese Nachricht katapultierte mich herum, wirbelte das Blut aus meinen Adern.
    Ennio Aaltink, ein waschechter Italiener aus dem Städtchen Forlì, betrieb, seltsam genug, ein britisches Delikatessengeschäft in der Haverstraatpassage, einen Schlauch von einem Laden, in dem ich zu Beginn meine Studiums mittwochs an der Kasse gestanden hatte. Zu zweit halfen wir deutschen Tagesausflüglern und Leuten, von denen die meisten nach Landadel aussahen, sich in dem Gewirr aus Gläsern mit Coleman’s English Mustard und Haywards Pickled Onions, Packungen mit Shredded Wheat oder Honey Nut Cheerios, Dosen mit baked beans & sausage, mushy peas, black peas, parched peas und Chutneys in allen Farben, die Kinderscheiße haben kann, zurechtzufinden. Die meiste Zeit aber waren mein Chef und ich allein.
    Ennio hatte von seinem sechzehnten bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr die Weltmeere befahren, die letzten Jahre als Schiffskoch, und er strotzte vor exotischen Geschichten. Ob er es mit Absicht tat, weiß ich nicht, aber die Dinge, die er mir erzählte, liefen immer auf Fragen hinaus, etwa die, wie man sein Leben führen könnte. Oder wie es ist, vor der Küste von Sachalin auf einem Tanker festzusitzen, wenn man depressiv ist. Oder wie es ist, die Angolanerin im letzten Moment doch nicht zu heiraten. Oder was man tun soll, wenn einen der Kapitän dazu zwingt, dreißig philippinische Frauen zu schmuggeln. «Na sag schon, Joni, wie hättest du dich da verhalten?» Er war ein gutaussehender Südländer in den Vierzigern, mit einer Nase so lang wie ein Finger und leuchtenden braunen Augen, die eigentlich auch Finger waren, da er mittwochs mit ihnen in meine unbescholtene Seele stach.
    In charmantem Twenter Dialekt mit italienischen Einsprengseln, reich an Wörtern, die einander in unvorhersehbaren Momenten überholten, erzählte er von seiner Jugend und seinen komplett verrückten Eltern, die ihm und seinen Brüdern immer die Vortrefflichkeit Benito Mussolinis vor Augen gehalten hatten. Seit Il Duces Tod habe sich in Italien alles in Richtung eines korrupten, halbherzigen, demokratischen Gestümpers entwickelt, fand Ennios Vater, ein lautstarker Krakeeler, der Meinungsverschiedenheiten mit Blutrache verwechselte und am Bahnhof von Forlì Zeitungen verkauft hatte, in einem sonnengebleichten Kiosk, der im Laufe der Zeit mit faschistischen Pamphleten, Duce-Hagiographien und auf Karton aufgezogenen Andachtsbildern vom Großen Führer zu Pferd zugemüllt worden war. Jeden Sonntag stieg die Familie in einen tomatenroten Fiat und fuhr mit frischen Rosen auf der Hutablage in den Geburtsort Mussolinis, nicht zufällig nur einen Steinwurf von Forlì entfernt, um dort die Familiengruft zu besuchen, wo der Vater mit nach vorne gerecktem Kinn eine der Reden des Duce rezitierte.
    Ennio ging bereits gut zwei Jahre auf die scuola media , als ein junger Geschichtslehrer ihn mit der unangenehmen Wahrheit über Mussolini konfrontierte. Es dauerte ein paar Wochen, aber danach hatte er endgültig begriffen, dass seine Eltern einen bösartigen, megalomanen, destruktiven Clown verehrten, ja dass sein Vater nicht nur dumm war, sondern wahrscheinlich sogar schlecht. Er wandte sich von der Familie ab. Eines Nachts, sein jüngerer Bruder lag hinter ihm und schlief, schrieb er einen Abschiedsbrief – ich sah vor mir, wie er dort saß, bei Kerzenlicht, fünfundzwanzig Jahre jünger, und den Brief verfasste, der ein Aufkündigungsschreiben war. Am nächsten Morgen trampte er zum Hafen von Ravenna und musterte auf einem Frachtschiff nach Indien an.
    Als Gegenleistung für seine Offenheit erzählte ich ihm zwischen den Marmeladengläsern und den Stapeln von mit Filz ausgelegten Picknickkörben von meiner Herkunft, ein Bericht, der nicht viel hermachte neben seinem – damals noch. So wie alle fragte auch er mich, ob ich meinen leiblichen Vater noch sähe, und als ich erwiderte, dass mir danach der Sinn nicht stehe, reagierte er anders, als ich erwartet hatte. Er fand mich dumm, schlampig, gleichgültig, herzlos sogar. Das sagte er. Kalt fand er mich. Er! Der Mann, der schon seit Jahren einen großen Bogen um Italien machte, der mit einer Turnlehrerin aus Boekelo eine spindeldürre Tochter gezeugt hatte, die nicht einmal wusste , dass sie von italienischen Großeltern abstammte, ein Mann wohlgemerkt, der

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