Bonita Avenue (German Edition)
Terrasse hinauszugehen, um dort eine Zigarette zu rauchen, und da saß sie, oft in Gesellschaft ihrer Mutter, nasetriefend, mit rotgeweinten Augen, offenbar in ein Gespräch vertieft, das auf der Stelle abbrach. Wenn er sie fragte, ob es ein bisschen besser aussehe, kriegte er ein «Ja, doch – alles bestens» als Antwort aufgetischt. Offenbar war er nicht die Person, bei der sie sich ausheulen wollte, wenn es um andere Männer ging. Nicht zu seiner Unzufriedenheit hatte Sigerius ihm am Tag zuvor berichtet, dass Ennio in die Kievitstraat gezogen war, weil seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hatte. Wegen seines Herumgemaches mit einer studentischen Aushilfskraft, wie es hieß.
«Wann willst du es wissen?», fragte Sigerius. «Gut. (…) Streng geheim. Verstehe. Ich rufe dich im Laufe der kommenden zwei Wochen zurück. Abgemacht. Bis bald. Mach’s gut, Thom.» Sigerius hielt sein Handy auf Augenhöhe, starrte aufs Display und ließ das Gerät dann langsam sinken. Er sah Aaron an und sagte: «Da schau her.»
«Passt wie angegossen», antwortete er.
«Zwei Wochen», sagte Sigerius.
«Zwei Wochen?»
«Wenn er nicht zwischenzeitlich stürzt.» Sigerius musterte ihn nachdenklich. «Hör mal, Aaron, kannst du ein Geheimnis bewahren? Ja, das kannst du bestimmt. Die Hälfte hast du sowieso schon mitbekommen.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, erzählte Sigerius ihm im Vertrauen (seine tiefe, ruhige Stimme klang bedeutungsschwer), dass soeben Thom de Graaf angerufen habe; man gehe davon aus, dass Kruidenier, der amtierende Wissenschaftsminister, innerhalb der nächsten vier Wochen entlassen oder von sich aus zurücktreten werde, was an und für sich keine Neuigkeit sei, in Den Haag spreche man seit Wochen kaum von etwas anderem. «Ob ich mich zur Verfügung halten wolle.» Normalerweise sprach der Vater seiner Freundin langsam, machte praktisch nach jedem Wort einen Punkt, jetzt aber flossen seine Sätze wie ein Bach, die Flügel seiner kleinen Nase waren gebläht vor Triumph. «Schon nächste Woche kann es so weit sein. Vielleicht aber auch erst in einem halben Jahr.»
Sigerius sah ihn an, erwartungsvoll. Aaron fahndete in seinem Gehirn nach einem angemessenen Kommentar, aber er fand keinen. Die Nachricht überrumpelte ihn, heftiger noch, als sie Sigerius überrascht haben konnte, sie hatte eine körperliche Auswirkung, als hätte ihm jemand einen Tritt gegen das Steißbein verpasst. Sigerius Minister, irgendwo in seinem übermüdeten Körper ging ein Adrenalinsprinkler an. Er musste etwas über Kruidenier und seine Schwindelei gegenüber dem Parlament sagen, er wusste genug darüber, der Mann hatte die Volksvertretung über einen angeblichen Betrug der Fachhochschulen falsch informiert. Aber sein Mund war zu trocken, um reden zu können. Er starrte auf die Bretter mit Schuhen neben Sigerius’ Gesicht, einem dunklen Fleck, auf dem sich ganz ohne Zweifel Verwunderung oder sogar Verständnislosigkeit abzuzeichnen begann. Er fokussierte seinen Blick auf ein Paar ausgetretene, mattschwarze Pumps.
«Vorausgesetzt, dass ich zustimme, natürlich», hörte er Sigerius sagen. «Die Partei hat von Kruidenier jedenfalls die Nase voll. Vielleicht schmeißt er ja von sich aus den Krempel hin. Die Fraktion hofft darauf.»
Aaron schwitzte, seine Kiefer waren angespannt. Die Pumps hatten unter Tinekes Gewicht gelitten, sie waren ruiniert. Sigerius zog mit einem kurzen Schnaufen die Nase hoch. Aus der Wohnzimmertür zur Diele erklang der laute, erlösende Ruf. Tineke. «Hey, ihr da oben! Wir fangen an!»
«Wir kommen», rief Sigerius. Er legte eine Hand auf Aarons baumwollene Schulter und schob sich an ihm vorbei. Vom Türrahmen aus sagte er: «Ich geb unten Bescheid, dass du dich noch umziehst. Und das Ganze bleibt erst mal unter uns.»
Auf einmal herrlich allein, ließ Aaron die Judojacke von seinem verschwitzten Oberkörper gleiten. Er stieg aus der weißen Baumwollhose, zog seine neue, enge Jeans an. Er ging in Richtung Schlafzimmer los. Zwischen zwei kupferfarbenen Nachtschränkchen, auf denen sorgfältig Bücher gestapelt waren, stand ein auffallend hohes Doppelbett mit altmodischen Decken und Laken. Nirgends lagen Kleider herum. Er schlängelte seine Arme in das Polohemd, das er sich von Sigerius geliehen hatte, und blieb vor dem Spiegel an der Schranktür stehen. Er betrachtete seinen erhitzten Kopf. Auf dem Scheitel seines Schädels hatte er immer noch eine Kruste, das Überbleibsel seines Sturzes gegen die
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