Bonita Avenue (German Edition)
forschte er selbst nach. Eines Morgens war er zur öffentlichen Bibliothek in der Pijpenstraat geradelt und hatte im Zeitungsarchiv nach einem Bericht über Wilberts Verurteilung gesucht. Das Urteil musste im Jahr 1993 gesprochen worden sein, das hatte Sigerius ihm erzählt, von einem Haarlemer Gericht, mehr wusste er nicht. Aber er hatte Zeit. Weil das Haarlems Dagblad in Enschede nicht archiviert wurde, sah er an dem ovalen Lesetisch gegenüber vom Kaffeeautomaten alle Ausgaben von Het Parool aus dem Jahr 1993 chronologisch durch, ohne Resultat, bevor er einen Stapel De Telegraaf aus dem Magazin kommen ließ, und tatsächlich: Gerade als er mutlos zu werden drohte, stieß er auf einen sachlichen Bericht. Weiter hinten in der Zeitung fand er einen ausführlichen Artikel mit fettgedruckten Textblöcken und lauter Details, die dafür sorgten, dass er den Rest des Tages an nichts anderes mehr denken konnte.
Wilbert S. stand am 16. November 1993 vor Gericht, weil er mit einem vier Kilo schweren Stahlhammer in blinder Wut auf einen gewissen Barry Harselaar, zweiundfünfzig, Vorarbeiter bei Hoogovens, eingeschlagen hatte, der daran starb. Dank der Vermittlung der Wiedereingliederungsstelle Noord-Holland, so las Aaron, hatte der «Wiederholungstäter S.» im Komplex des Warmwalzwerks 2 als Mädchen für alles in der Frühschicht gearbeitet. Das ging ein paar Wochen gut, bis sein Vorgesetzter, ebenjener Harselaar, mitbekam, dass Wilbert S., der schon einmal wegen sexueller Nötigung gesessen hatte, die einundvierzigjährige Frau, die die Werkskantine leitete, belästigte. Nachdem sie sich bei Harselaar über «Busengrapschereien» beklagt hatte, beschloss er, sich den Neuen auf eine «sympathische Weise» vorzuknöpfen. Nach Aussage von zwei Zeugen stand Harselaar, auf einen Vorschlaghammer gestützt, neben einer leeren Metalltonne, die etwa einen Meter hoch war, als er Wilbert S. zu sich rief. «He, hilf mir mal – mein Tabak ist da reingefallen. Du mit deinen langen Fingern kommst bestimmt an ihn ran.» Als Wilbert S. sich, die Metallkante im Bauch, tief in die Tonne vorgebeugt hatte, nahm Harselaar den Vorschlaghammer und verpasste ihr einen gewaltigen Schlag. Das sollte ihn lehren, seine Drecksfinger bei sich zu behalten. Harselaar wusste nicht, dass Wilbert S. an einem Kursus teilnahm: Das Anti-Aggressions-Training ART, veranstaltet von der Wiedereingliederungsstelle, war für aufbrausende Menschen gedacht. «Du rastest sofort aus», las Aaron auf der Website der Wiedereingliederungsstelle, «aber du weißt nicht, woher das kommt? Mit dem Aufspüren der Ursachen beginnt die Eindämmung der Aggression. Am Ende bringt Beherrschung Ruhe.»
S. arbeitete sich mit pfeifenden Ohren aus der Tonne und flog seinem Vorgesetzten schreiend an die Kehle. Den Zeugen zufolge bekam er nach einem kurzen Ringkampf den Hammer zu fassen, hob diesen blitzschnell bis über seinen Kopf und ließ ihn mit einem Krachen auf Harselaar niedersausen, der, zwischen linker Schulter und Hals getroffen, stöhnend zu Boden sank. Ein Eingreifen war unmöglich. Einer der beiden Walzarbeiter, die es beobachtet hatten, der zweiundzwanzigjährige Ronald de H., unternahm einen entsprechenden Versuch, was ihm einen gezielten Hammerschlag von hinten einbrachte: Beckenbruch. Was sich in den darauffolgenden dreißig Sekunden vor ihren Augen abspielte, muss traumatisch gewesen sein. Wilbert S. schlug, immer wieder «Drecksack» brüllend, mindestens fünfzehnmal auf Barry Harselaar ein, genau so lange, bis der Mann sich in einen zermatschten, blutüberströmten Klumpen aus Fleisch und Kalk verwandelt hatte. Bei der Obduktion wies Harselaars Körper sechsundzwanzig Knochenbrüche auf. Nur sein Organspenderausweis war unversehrt.
Nachdem Wilbert S. sich ausgetobt hatte, warf er den Hammer gegen eine Wand und floh durch das sechshundert Meter lange Walzwerk, verließ es durch einen Notausgang und überquerte das Fabrikgelände. Anderthalb Stunden später wurde er in einem Lagerschuppen hinter einer der Kokereien verhaftet.
Weil S. ein Rückfalltäter war, bereits zweimal hatte man ihn wegen Körperverletzung verurteilt, und weil von Notwehr oder einer Provokation durch das Opfer in Anbetracht seines unverhältnismäßigen und extrem aggressiven Verhaltens keine Rede sein konnte, forderte der Haarlemer Staatsanwalt zehn Jahre und eine anschließende Sicherungsverwahrung. Obwohl der Richter den Abscheu des Anklägers über «S.’ unbeherrschten Wutanfall»
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