Bonita Avenue (German Edition)
Vater, dessen Augen tränten, Janis manövrierte mit der Gabel eine kalte Kartoffelkrokette durch die Soße.
«Mein Gott», murmelte Tineke zwischen den Zähnen. Sie stand auf und ging mit einer leeren Wedgwoodschüssel in die Küche. Man hörte sie den Korb der Fritteuse rabiat schütteln. Sigerius, immer noch dröhnend, beide Hände auf dem Bauch, der wie ein kräftiger Nordwind sein Poloshirt blähte, schob seinen Stuhl nach hinten.
«Papa», sagte Joni, «benimm dich normal.» Auf ihrem Hals hatte sie rote Flecken, die sich bis zum eleganten V-Ausschnitt ihrer Bluse erstreckten. Sigerius aber schien sie nicht zu hören, er lachte einfach weiter, und Aaron spürte, dass sich sein Gefühl des Triumphs zu verflüchtigen begann. Hier war etwas im Gange, an dem er weder Anteil noch Schuld hatte. Tineke kam mit einer Schüssel zischelnder Kartoffelkroketten in den Wintergarten zurück und betrachtete ihren Mann. Ihr aufgedunsenes, von aschblonden Locken umrahmtes Gesicht wirkte auf eine Weise ausdruckslos, wie es bei Gesichtern dicker Menschen oft der Fall ist. Vielleicht kam deshalb der ungeheure Knall, mit dem sie die Schüssel auf den Tisch stellte, so überraschend. «Siem, jetzt hörst du damit auf.»
Stille.
Sigerius schaute sie an, schweigend, traurig offenbar, sein Gesicht ähnelte von einem Moment auf den anderen einem leerstehenden Lagerhaus.
«Dann sag ihnen auch die Wahrheit, verdammt, statt dieses albernen Geschwätzes.»
«Welche Wahrheit?»
«Mann, tu nicht so blöd. Sag es ihnen, wenn du alles so genau weißt.»
«Leute», versuchte Janis zu beschwichtigen.
Ihre Mutter hörte es nicht. «Wenn du ein Kerl bist, Siem Sigerius, dann sag ihnen, wer am Samstag angerufen hat. Welcher Abschaum.»
«Tien, erspar mir das. Erspar uns das. Was, um Himmels willen, hat das, was am Samstag passiert ist, hiermit zu tun?»
«Viel. Alles. Und das weißt du verdammt genau. Sag es ihnen. Oder ich sage es ihnen.»
Sigerius verzog keine Miene. Obwohl: Auf seinem Rektorenschädel, unter seinen kurz geschnittenen, leicht gräulichen Haaren, bewegte sich ein Muskel. Ein versteckter, nervöser Muskel. «Du verdirbst den ganzen Abend», sagte er, «und das weißt du verdammt genau.»
«Dann sage ich es.» Sie sah zur anderen Seite des Tisches hinüber, zu Joni und Janis. «Kinder», sagte sie, «bitte nicht erschrecken. Wilbert hat angerufen. Der Abschaum unserer Familie. Samstagabend, extra euretwegen. Wilbert Sigerius. Wollte wissen, ob ihr die Katastrophe überlebt habt.»
Ihm war kalt. Er war so intensiv mit sich selbst beschäftigt gewesen – mit seiner zusammenphantasierten Geschichte, mit der Reaktion, die er bei Sigerius auslöste, mit seiner Rache an Joni und ihren Kerlen –, dass er nicht kapierte, was geschah. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Offenbar stand er nicht im Mittelpunkt seines eigenen Auftritts, sondern mühte sich auf seiner selbstgebauten Bühne ab, während die eigentliche Vorstellung im Zuschauerraum stattfand. Es gab alles Mögliche, was er nicht verstand; er verstand nicht, warum niemand über die spektakuläre Aufhellung von Sigerius’ Laune erleichtert war, er verstand nicht, warum Tineke von dem Anruf anfing, obwohl ihr Mann aufs entschiedenste dagegen war, er verstand nicht, warum zwischen Joni und Sigerius so eine vergiftete Stimmung herrschte. Und das Schlimmste: Wie konnte es sein, dass er nicht verstanden hatte, dass es nicht um Manus Pitte gegangen war, sondern in Wirklichkeit um Wilbert Sigerius?
Er, der über den Hammerschläger von IJmuiden und die Familie, auf die er seinen ausgefransten Schatten warf, sehr wohl einiges zu wissen meinte. Nach jenem Abend vor inzwischen langer Zeit, in der Cafeteria des Sportzentrums, dem Abend, an dem Sigerius ihn über den Lebenslauf des Familienabschaums ins Bild gesetzt hatte, war er der Sache nachgegangen. Fasziniert. Er hatte bei Joni angefangen, mit all der Umsicht, die er aufbringen konnte, hatte er ihr ein Loch in den Bauch gefragt: Was wusste sie , über die Bruchstücke hinaus, die sie bereits preisgegeben hatte, über diesen Wilbert? Wenig, so schien es. Weniger sogar, als ihr Vater ihm bereits anvertraut hatte. Ja, er saß im Knast, das wusste sie, aber die Einzelheiten kannte sie nicht. Sie sprach nicht gerne darüber, wie ihm sehr schnell klargeworden war, keiner in der Familie tat das, sie bissen sich lieber die Zunge ab, als über diesen elenden Knastbruder zu reden, und das glaubte er zu verstehen. Darum
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