Bonita Avenue (German Edition)
teilte, lautete sein Urteil acht Jahre Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft, die bis dahin vier Monate gedauert hatte. Eine Sicherungsverwahrung komme nicht in Frage, da S. nach Aussage der Psychiater aus der Pieter-Baan-Klinik voll zurechnungsfähig gewesen sei.
Am Abend nach seinem Bibliotheksbesuch war Joni zum Essen bei ihm in der Vluchtestraat, und als er ihr beim Abwasch sein neuerworbenes Wissen präsentierte, brach sie in Tränen aus. Es war das erste Mal, dass er sie weinen sah, und obwohl er eine evolutionär bedingte Rührung verspürte, kostete es ihn große Mühe, ihre Reaktion zu verstehen. Er stellte Fragen, falsche Fragen. «Weinst du wegen des Vorarbeiters, den er ermordet hat?» «Nein, den kannte ich doch nicht.» «Weinst du, weil du dich schämst?» «Nein, natürlich nicht. Wieso sollte ich mich schämen?» «Wegen der grausamen Details zum Beispiel. Das Ganze ist so schrecklich.» «Nein!», schluchzte sie, «doch, auch , ich weine wegen allem, das kapierst du doch bestimmt? Es war kein Mord, es war Totschlag. Ich bin einfach traurig wegen Wilbert, wegen seines Schicksals, trotz allem, was passiert ist, tut er mir leid. Ist das so seltsam?»
Ja, er fand es seltsam. Wegen eines Menschen zu weinen, der einem einen Liter Sand ins Gesicht schüttet und zwanzig Jahre später einen erwachsenen Mann zu Brei schlägt? Höchst merkwürdig.
Am Tisch wurde es noch merkwürdiger. Folgendes passierte: Nachdem Tineke ihren Töchtern erzählt hatte, dass Wilbert sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt habe, war Janis die Erste, die ein Wort über die Lippen brachte. Sie räusperte sich und fragte mit einer für ihre Verhältnisse dünnen Stimme, ob Wilbert vom Gefängnis aus angerufen habe. Tineke antwortete, er sei auf freiem Fuß.
«War Wijn deshalb auf dem Empfang?», fragte nun Joni, barsch, misstrauisch.
Die Ehrendoktorate, Aaron wusste sofort, wovon sie sprach. («Das kann nicht wahr sein», hatte sie zu ihm gesagt, als ein großer, schlecht gekleideter Mann mit verlebtem Gesicht das hohe Foyer betrat. «Dieser kostümierte Bauarbeiter da», hatte sie geflüstert, «der mit den grauen Schwarzenegger-Haaren? Das ist Menno Wijn.» Dabei hatte sie es belassen. Du bist also Wilberts reicher Erbonkel, hatte er gedacht.)
«Um mitzuteilen, dass Wilbert freigelassen wird», sagte Tineke.
«Warum erfahre ich das erst jetzt?», sagte Joni. Ihre Frage klang unglaublich frech.
«Die Stadt ist explodiert», sagte Sigerius. «Vielleicht ist das wichtiger.» Er hatte den Oberkörper halb abgewandt und starrte aus dem Fenster, nur seine rechte Hand lag auf dem Tisch, Daumen und Zeigefinger spielten mit dem Serviettenring.
«Mama», sagte Joni, «wiederhole einmal genau, was Wilbert gesagt hat.» Mit beiden Händen hielt sie die Tischplatte umklammert.
Ob sie es nun tat, um ihren abgekehrt dasitzenden Mann zu brüskieren, oder weil sie fürchtete, Joni könnte den Tisch umwerfen – Tineke machte, worum sie gebeten worden war. Es sei ein kurzes, knochentrockenes Gespräch gewesen. «‹Leben die beiden?› ‹Ja, sie leben›» – viel mehr sei nicht gesagt worden.
«Wo wohnt er?», fragte Joni.
«In Amerika», sagte Sigerius, ohne herzusehen.
«Woher weißt du das?», fragte Tineke. Sie schauten alle auf den störrischen Hinterkopf, Sigerius’ Ohren sahen aus wie kleine Fäuste, deren Finger von einem Böller amputiert worden waren.
«Ich weiß überhaupt nichts», sagte er. «Ich äußere einen Wunsch.»
«Wie ging es ihm?», fragte Joni.
Tineke berichtete, dass sie Wilbert danach im letzten Moment gefragt habe, das Gespräch sei bereits beendet gewesen, doch er habe den Hörer wieder an den Mund geführt und ziemlich sarkastisch geantwortet, auch er lebe noch – und das sei dann auch schon alles gewesen. In dem Moment drehte Sigerius sich zu ihnen um. «Das war ein Dämpfer», sagte er, das Gesicht noch erhitzt vom Lachen. «Es hätte uns jede Menge Elend erspart, wenn Wilbert angerufen hätte, um kurz mitzuteilen, dass er tot ist.»
Aaron war der Einzige, der lachte, aus Unbeholfenheit. Janis und ihre Mutter schwiegen. Joni sah ihren Vater sekundenlang an, ihr Mund zitterte. Dann stand sie vom Tisch auf, nahm mit beiden Händen die Wedgwoodschüssel mit den Kartoffelkroketten, drehte ihren Rumpf um neunzig Grad ( «Joni, was machst du!» , kreischte Tineke) und warf das Ding mit einem schrillen Knurrlaut auf den Boden. Der Knall war wahnwitzig. Janis schrie auf. Sie hörten die
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