Bonita Avenue (German Edition)
nicht da war, was eigentlich relativ selten vorkam, aber ausgerechnet an dem Tag war er zu einem Mathematikkongress in Berlin, München oder sonst wo gefahren, wegen seiner Promotion jedenfalls. Also tranken meine Mutter und ich, uns dabei unbehaglich fühlend, Limonade mit unserem Gast, der Witze riss, sich aber auch die Einrichtung unseres Wohnzimmers genau ansah und in nüchternem Ton aufzählte, welche Dinge wir seiner Mutter gestohlen hatten: die grüne Kuckucksuhr, den Schilfrohrstuhl, auf dem er saß, die zwei Kamelsättel, von denen er zu berichten wusste, dass seine Mutter sie persönlich in Ägypten gekauft hatte, was selbst mir Unsinn zu sein schien.
«Wie war deine Fahrt, Wilbert?», wollte meine Mutter wissen. «Gut, gut», antwortete er, «mein Onkel hat mich mit dem Auto gebracht.» Und als der offizielle Teil beendet war, gingen er und ich spielen – los, komm, Joni, nach draußen, Abenteuer erleben, und als hätte nicht ich, sondern er in den zwei zurückliegenden Jahren in der Antonius Matthaeuslaan gewohnt, nahm er mich mit auf einen Streifzug durch Gegenden von Utrecht, in denen ich noch nie gewesen war. Wir rannten über die Laubengänge von Apartmenthäusern in Overvecht, er machte ein gefährlich hoch aufloderndes Feuerchen in einem Aufzug, wir verfolgten eine Stunde lang einen Mann mit einem Rollkoffer, bevor er am Ende des Blauwkapelsewegs in ein Auto stieg, auf das Wilbert, die Zunge zwischen den Zähnen, einen dicken Erdklumpen warf. In einem abgelegenen Einkaufszentrum musste ich vor der Tür eines Zigarrenladens warten, bis er wieder nach draußen kam, und nachdem ich zunächst einen Kilometer weit, so schnell ich konnte, hinter ihm hergerannt war, gab er mir drei Päckchen Kaugummi und einen Stapel Lottoscheine.
Am Abend brachte meine Mutter Janis zu Opa und Oma in die Professor Pullelaan und ging mit Wilbert und mir in der Voorstraat ins Kino. Sie hatte Karten für Herbie reserviert, aber ein lebendiger VW Käfer, das sei etwas für Babys, meinte Wilbert, und so sahen wir uns Grease an, einen Film, für den ich, fand Siem schon seit einem halben Jahr, zu jung war. Wilbert saß neben mir, er roch nach Rauch und Schweiß und atmete wie ein seltsames Tier. Jungs wie Wilbert kannte ich nur von der Kirmes, sie rangierten Autoscooter, hockten beim Steuern lässig mit ihrem Hintern auf der Seitenwand. «Erzähl lieber nichts von dem Film», sagte meine Mutter hinterher, und das war überhaupt kein Problem, denn bis zum Sonntagabend sollte ich jede Menge Dinge erleben, von denen mir klar war, dass ich sie besser für mich behielt.
Bei Pommes frites und Kroketten hatte Wilbert, dessen schwarzes Haar mit Hilfe von Zuckerwasser zu einer Schmalztolle frisiert war, uns erzählt, dass er in Culemborg regelmäßig mit seiner Sporttasche zur Bushaltestelle gehe, drauf und dran, zu seinem Vater nach Utrecht zu fahren, er vermisse Siem, sagte er, aber seine Mutter habe ihm das verboten, und sein Onkel habe die Tasche in einem Schrank in seiner Sportschule weggeschlossen. «Vielleicht ist es ja schön, wenn ich nach Amerika mitfahre, Tante Tineke», sagte er. Also warteten wir auf seinen Vater, und als es an der Tür klingelte, kniff sich Wilbert mit seinen Mayonnaisefingern vor lauter Anspannung in die vollen Lippen, aber es war nicht sein Vater, der hatte einen Schlüssel, es waren zwei Polizeibeamte in Uniform. Der Besuch war zu Ende. Die Beamten stellten anhand eines Formulars, das meine Mutter unterschreiben musste, fest, dass Wilbert Wilbert Sigerius war, neun Jahre alt und seit dem Morgen des Tages von Menno Wijn als vermisst gemeldet. Sie tuschelten in der Küche noch eine Weile mit meiner Mutter, danach nahmen sie Wilbert mit.
Später am Abend, als Siem erschöpft von der Reise heimkehrte, bekam er – und aus geringer Entfernung auch ich – die ganze Geschichte zu hören. Die Polizei war Wilbert wegen eines in Culemborg gestohlenen Mopedgefährts auf die Spur gekommen, eines Behindertenwägelchens, das nicht schneller als 45 Stundenkilometer fahren durfte und mit leerem Tank im Utrechter Vaartse-Rijn-Kanal gefunden wurde. Ein Tankstellenbesitzer hatte Wilbert am Freitagnachmittag darin gesehen, als er von Culemborg nach Utrecht getuckert war.
An diesem Sonntagabend lag ich steif wie ein Brett in meinem Bett. Mein neuer Vater stritt sich zum ersten Mal mit meiner Mutter, und seine Stimme war laut und durchdringend. In den Wochen danach, die im Zeichen unserer großen Überfahrt
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