Bonita Avenue (German Edition)
rannen. Ich wartete, bis die Tränen getrocknet waren, und sagte: «Los, dann fragen wir eben deine Mutter.» Scotts Mutter machte mir gnadenlos klar, dass ich unrecht hatte, und nannte mich besserwisserisch, frech und schlecht erzogen. «Und nimm die Hände von dem Stuhl.» «Das ist kein Stuhl», erwiderte ich in einwandfreiem Englisch, «das ist eine Couch.» Und obwohl ich recht hatte, es war eine Couch, ein geblümter unterteilter Zweisitzer, mochte Scotts Mutter, glaube ich, mich nicht mehr.
Scott war vernarrt in uns. Während unseres zweiten Sommers in dieser Straße kam er abends oft so gegen sieben hintenrum in den Garten. «Hallo, Joni», sagte er dann zu uns allen, worauf wir im Chor «Hi, Scotty» antworteten, und dann musste ich lachen, und meine Mutter seufzte, und selbst Janis mit ihren fünf Jahren wusste, warum – nur Scott nicht. Seine Äuglein spähten durchs hochgewachsene Gras, bis er den ledernen Fußball entdeckte, den wir aus den Niederlanden mitgebracht hatten, und sofort versuchte er, ihn ungeschickt in der Luft zu halten, wobei er Mutters Blumen plattmachte und excuse me rief, während mein Vater, obwohl er von einem Tag mit höherer Mathematik erschöpft war, wie eine Maschine aus Fleisch und Blut den Abwasch erledigte, zusammen mit der älteren seiner brandneuen Töchter, singend oder scherzend oder mich mit Fragen löchernd, wie denn mein Schultag gewesen sei. Ich selbst ging hin und wieder mit einem nassen Teller in den Garten, um mich am Geplapper von meiner Mutter und Scotty zu beteiligen, der mir «frag deinen Vater mal, ob wir nachher zusammen Fußball spielen» ins Ohr flüsterte. Ja, deswegen kam Scotty, er wollte Fußball spielen mit Siem. Was er für den netten, witzigen, interessierten, starken, sportlichen Mann dort in der Küche empfand, das empfand auch ich. Das versierte Tempo, mit dem Siem das Geschirr spülte, die Schüsseln und Töpfe und Gläser und Deckel, es gab mir zu verstehen, dass wir Schwein gehabt hatten, dass Mama, meine Schwester und ich über unseren neuen Vater froh sein durften.
In neun von zehn Fällen gingen wir Fußball spielen. Dann spazierten wir nach dem Abwasch alle zusammen zum Life Oak Park oder zum Berkeley-Campus, wo wir immer irgendwo eine freie Rasenfläche fanden. Meine Mutter setzte sich ins Gras und schaute von der imaginären Seitenlinie aus dem Fußballspiel zu, in dem Scott und ich gegen meinen Vater und Janis antraten. Janis hockte schon nach wenigen Minuten hinter dem Tor, das durch Siems lederne Slipper und eine Trainingsjacke markiert wurde, und pflückte Blumen, während sich mein lachender und immer stärker schwitzender Vater auf seinen breiten nackten Füßen gegen mich und den vor Anspannung kreischenden Scott ordentlich ins Zeug legen musste.
Sie ähnelten einander überhaupt nicht, der strohblonde skelettlose Scotty mit seinem Fruktosekörper und der athletische Zigeunerjunge, den wir in Culemborg zurückgelassen hatten. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, musste ich an diesen Fußballabenden immer an Wilbert denken. Ich sah ihn vor mir, da in den Niederlanden: wütend und allein. Er hatte mit nach Berkeley kommen wollen, das hatte er mir selbst gesagt: «Ihr geht nach Amerika?», fragte er, als wir im Griftpark gerade ein Abflussrohr ausgruben, «dann will ich mit. Sag meinem Vater, dass ich mitfahre.» Ich versprach, es weiterzugeben, doch als ich Siem wiedersah, hielt ich den Mund.
Es war das einzige Mal, dass ich Wilbert nach der Scheidung wieder zu Gesicht bekommen hatte, ein paar Monate bevor wir nach Kalifornien umzogen und nicht lange nach der glanzlosen Heirat von seinem Vater und meiner Mutter. Siem lebte schon eine ganze Weile unten bei uns dreien, und was zu Beginn seltsam wirkte – der Nachbar von oben, der mitaß und Woche um Woche bei uns wohnte –, das war inzwischen ganz normal und außerdem noch schön. (Er hatte die Familie vergrößert, so wie Janis sie vorher vergrößert hatte. Aber welches Tier stellt man in den Vorgarten, wenn man einen neuen Vater bekommen hat? Jedenfalls keinen Klapperstorch.)
Eigentlich hatte ich schon fast vergessen, dass Siem einen Sohn hatte, der bei dieser Margriet in Culemborg wohnte – bis Wilbert eines Freitagnachmittags vor der Tür stand. An seiner beringten Kinderfaust hing eine Edah-Plastiktüte, in der ein zusammengeknüllter Pullover und eine verfluste Zahnbürste steckten. Er kam seinen Vater besuchen. Unangekündigt. Pech war nur, dass Siem gar
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