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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Buwalda
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standen, erwähnte niemand Wilbert auch nur mit einem Wort. Und als wir dann hier, im neuen Land, im neuen Haus an der Bonita Avenue wohnten und alles in den Niederlanden überraschend weit weg und lange vergangen zu sein schien, da benahmen wir uns, als hätte es diesen animalischen Jungen nie gegeben. Vor allem rückblickend betrachtet, erlebten wir in Amerika die beste, glücklichste und sorgenfreieste Zeit, die wir vier je miteinander hatten. Und zwar mit Abstand.
    Aber ich machte mir meine Gedanken. Und abgesehen von Janis machten wir uns wahrscheinlich alle unsere Gedanken. Wann immer ich auf meiner Schaukel, die Siem am lauchgrünen Verandabalken aufgehängt hatte, an die Erdgeschosswohnung in der Antonius Matthaeuslaan mit dem bedrohlichen, sonderbaren, sorgenbeladenen Haus darüber zurückdachte und an all das, was sich dort ereignet hatte, dann wurde ich nicht nur traurig vor Glück oder umgekehrt, sondern dann entspann sich in meinem Kopf eine verquere Begründung: Ich fing an zu glauben, dass wir Margriet, Wilbert und diesen komischen Onkel nicht etwa in den Niederlanden zurückgelassen hatten, sondern dass wir vor ihnen geflohen waren. Wir mussten neu anfangen. Und das taten wir hier, in diesem Wohnviertel, wo Siem an der Universität seiner Arbeit nachging.
    Auch in Amerika hörte ich meine Eltern gelegentlich streiten, unser Holzhaus war ein einziger Resonanzkasten, und dann stand ich sofort aus meinem Bett auf und stellte mich mit pochendem Herzen oben an die Treppe. Manchmal schloss ich aus ihren Worten, dass es um Wilbert ging, dann hatte Menno Wijn in Amerika angerufen, Telefonate, die Siem für ein paar Tage in einen kurzangebundenen, widerborstigen Mann verwandelten. Nach jedem Wutausbruch hatte ich eine Riesenangst, dass Wilbert doch noch nachkommen würde, oder schlimmer noch: dass Siem zurück in die Niederlande müsste, dass es einfach nicht sein sollte, dass wir zu viert eine Familie waren, und dass es vielleicht dazu käme, dass wir schon am nächsten Tag allesamt das Flugzeug in die Niederlande nehmen und wieder in dem schrecklichen Haus an der Antonius Matthaeuslaan wohnen müssten.
    Was konnte ich tun? Das Geheimnis bewahren . Ich schwor einen heiligen Eid. Jetzt, da ich Siem «Papa» und mich selbst «Sigerius» nannte, jetzt, da wir in diesem fernen Land einen Neuanfang gemacht hatten und ich merkte, dass meine Mutter wieder lachen konnte, durfte niemand die Wahrheit erfahren. Wir waren eine normale Familie. Tineke und Siem hatten mich gemeinsam gemacht, und danach hatten sie meine Schwester gemacht. So war das. Nicht davon abweichen, nie.
     
    Jemand tickte ans mittlere Erkerfenster. Ich stand immer noch mitten auf dem Betonweg, der zum Nachbarhaus führte. Die Gardine bewegte sich, eine Hand schob den durchsichtigen Stoff beiseite. Ich schaute in die Augen von Scottys Mutter, unverkennbar, wie funktionierte das Gedächtnis bloß? Es hatte den Anschein, als würde sie auch mich erkennen, das verschwenderisch geschminkte, totenkopfschlanke Gesicht sah mich verdutzt und erfreut zugleich an, die rosa bemalten Lippen zuckten, bildeten ein Wort. Ich drehte mich um: Boudewijn hatte Mike auf den Schoß genommen und sich auf den Beifahrersitz gesetzt. Ich ging über den gemähten Rasen zum Fenster, die furchigen Lippen riefen etwas. «Tineke.» Die Frau ließ die Gardine los, gab mir mit Zeichen zu verstehen, dass ich nicht weggehen solle. Während ich wartete, fiel mir ein, dass meine Mutter vor zwanzig Jahren schlank gewesen war.
    «Joni, dear , bist du’s? Unglaublich – ich war überzeugt, deine Mutter zu sehen. Komm näher, komm rein, was für eine Überraschung.» Ihr linker Fuß steckte in einer Stop & Shop-Tasche, die mit Paketband ums knochige Fußgelenk gebunden war, am rechten trug sie einen Pantoffel aus grauem Fell. Sie führte mich ins Wohnzimmer, schleifte den Plastikfuß hinter sich her. Ein säuerlicher Geruch nahm mir den Atem, eine Mischung aus alten Tapeten, Messingpolitur, Zigaretten, ausgelassenem Speck, den Ausdünstungen eines alten Hauses. «Setz dich, Schatz – mein Gott, siehst du deiner Mutter aber ähnlich.» Sie deutete auf einen Stuhl, von dem aus ich den Land Rover sehen konnte, Boudewijn hatte Mike noch immer auf dem Schoß, sein Arm hing schlaff aus dem Fenster. Die beiden schliefen. «Achte nicht auf meinen Fuß», sagte sie, «mein Zeh ist gebrochen, knack, einfach so, ich bin gegen den Schrank da gestoßen, als ich den Boden gewischt habe. Entzündet

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