BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
Luxus.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Miss Hudson sich bereits in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Sie bewohnte zwei Räume im Souterrain des Hauses. Sicherlich hatte sie ihm in der Küche sein Abendessen warmgestellt.
Er setzte sich an den penibel aufgeräumten Schreibtisch und nahm das dicke Buch, das am Rand des Tisches lag, zur Hand. Er schlug es auf und strich über die eng beschriebenen Seiten.
Obwohl er bereits so viel Arbeit erledigt hatte, kam immer noch täglich ein Brief seines Großvaters. Und täglich bewunderte Miss Hudson, wenn sie ihm diesen überreichte, die liebevolle Zuwendung, die sie dahinter vermutete.
Nathan wusste es besser. In den Briefen stand nie ein persönliches Wort. Es waren lediglich Befehle, die er von seinem Großvater erhielt. So war es schon immer gewesen.
Er begann, mit einem altmodischen Füller die Liste in dem Buch zu vervollständigen. Titel für Titel übertrug er aus dem Brief. In die linke Spalte schrieb er den Autor des Buches. Daneben setzte er den Titel und das Erscheinungsjahr. Die letzte Spalte ließ er frei. Er würde sie erst ausfüllen, wenn seine Aufgabe erledigt war.
Er wartete einen Moment, bevor er prüfte, ob die Tinte der frischen Einträge getrocknet war, dann schlug er das Buch zu und räumte es an seinen Platz zurück.
Sein Magen knurrte und er stand auf, um in der Küche nachzusehen, was Miss Hudson vorbereitet hatte. Auch wenn ihm ihre Art, ihn zu umsorgen, auf die Nerven ging, musste man ihr zugestehen, dass sie eine ausgezeichnete Köchin war. Täglich zauberte sie ihm seine streng vegetarischen Gerichte.
Nach dem Essen ging er zurück in das Arbeitszimmer und zog das Referat hervor, auf das er sich für sein morgiges Seminar vorbereiten musste.
Sein Großvater hatte ihm erlaubt, neben seinem Studium der englischen Literatur auch Kurse in Kunstgeschichte zu belegen. Er musste sich seine Zeit gut einteilen, um seine Aufgabe erledigen zu können. Sollte er seine Pflicht vernachlässigen, würde sein Großvater ihm die zusätzlichen Kurse sofort verbieten, das wusste Nathan.
Als der Morgen dämmerte, lag Nathan bereits seit zwei Stunden wach in seinem Bett. Unentwegt musste er an ihre grauen Augen denken. Sie waren ihm bis in seine Träume gefolgt.
Er war auf dem Landsitz seines Großvaters erzogen worden. Hauslehrer unterrichteten ihn in Französisch, Deutsch, Spanisch, Latein und Altgriechisch. Außerdem in Geschichte, Geografie, Politik und Mathematik. Nur den Unterricht in Literatur, dem Fach, das sein Großvater für das wichtigste hielt, übernahm dieser persönlich. Bevor er sich ins Privatleben zurückgezogen hatte, war sein Großvater Professor für Literatur am King’s College gewesen. Jeder männliche Spross der Familie de Tremaine besuchte dieses College und nicht wenige unterrichteten danach an diesem Institut.
Kontakte mit Mädchen waren unter diesen Umständen nur spärlich zustande gekommen. Selbst in den letzten vier Jahren, in denen er in der Welt herumgereist war, hatte er nur selten Zeit für eine Verabredung gehabt. Und wenn, dann hatten diese Mädchen ihm nichts bedeutet. Er widmete sich seinen Studien und seiner Arbeit. So wie sein Großvater es von ihm erwartete.
Nathan hatte seinen Großvater als kleiner Junge einmal gefragt, weshalb er seine Professur aufgegeben hatte. Schließlich wurde ihm ständig gepredigt, wie wichtig es war zu arbeiten und seinen Geist zu schulen. Dieser hatte ihn daraufhin angeschaut und die damals erst angegrauten, buschigen Brauen über seinen Furcht einflößenden schwarzen Augen zusammengezogen. Automatisch war Nathan einen Schritt zurückgewichen. Es gab nichts Schlimmeres als den Zorn seines Großvaters. Dann hatte dieser mit leiser Stimme zu sprechen begonnen. Seine Worte hatten sich in Nathans Gedächtnis eingebrannt.
»Hätten deine Eltern nicht so verantwortungslos gehandelt und dich als vierjähriges Kind verlassen, hätte ich meine Karriere nicht beenden müssen. Ich konnte mich aus der Verantwortung für dich nicht davonstehlen. Also sei dir bei allem, was du tust, immer darüber im Klaren, was du mir schuldest. Was ich für dich aufgegeben habe.«
Seit diesem Tag konzentrierte Nathan sich noch stärker als vorher darauf, seinen Großvater stolz zu machen. Niemals versäumte er eine Lehrstunde oder erschien unvorbereitet im Unterricht. Lob erntete er dafür nie. Egal wie sehr er sich anstrengte, es war, als ob sein Großvater das als selbstverständlich betrachtete.
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