BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
Der Drang, ihn stolz zu machen, wurde trotzdem von Jahr zu Jahr größer.
Nathan verscheuchte die Erinnerungen und sah auf seine Uhr. Es war später, als er gedacht hatte. Hastig stand er auf, wusch sich und zog sich an. Er lief ins Erdgeschoss und holte seine Unterlagen aus dem Büro, bevor er sich auf den Weg in das Speisezimmer machte, wo Miss Hudson das Frühstück vorbereitet hatte. Hastig schlang er eine Portion Rührei hinunter und durchblätterte die Times, die neben seinem Teller lag. Dann nahm er sich im Hinausgehen einen Toast. Mit vollem Mund erwiderte er den Morgengruß seiner Haushälterin und eilte zur Tür hinaus. Ihr Kopfschütteln ignorierte er.
Die U-Bahn brachte ihn zur Bibliothek. Mit weit ausholenden Schritten ging er die Treppen zum Eingang des Gebäudes hinauf. Morgen würde er einen Mantel überziehen müssen, dachte er fröstelnd.
Zielstrebig ging er in den Lesesaal im oberen Stockwerk und reichte der Dame am Empfang seine Bestellnummer. Er legte ihr seinen Studentenausweis vor, der ihn als Studenten des Institutes für englische Literatur am King’s College und als Assistenten des Fakultätsdirektors auswies. Nur so war es ihm möglich, an die sorgfältig unter Verschluss gehaltenen Erstausgaben der Bücher zu kommen.
Die Dame hinter dem Pult prüfte sorgfältig seine Berechtigung, bevor sie im Archiv anrief und seine Bestellung durchgab. Sie reichte ihm seinen Ausweis zurück und wies ihn an, Platz zu nehmen. Nathan setzte sich und knipste eine altmodische Tischlampe mit grünem Schirm an. Das Mobiliar des Lesesaals war seit der Eröffnung mehrmals restauriert, aber niemals erneuert worden. Nathan mochte den Geruch nach altem Holz und Politur, der der dunklen Tischplatte entströmte, die vom jahrelangen Gebrauch so blank poliert war, dass man sich fast darin spiegeln konnte.
Er schlug seine langen Beine übereinander und klopfte mit den Fingern ungeduldig auf das Holz, bis ein strenger Blick der Empfangsdame ihn an den obersten Grundsatz des Lesesaals erinnerte. Hier herrschte absolute Ruhe. Die einzigen Geräusche, die erlaubt waren, waren das Umblättern der Buchseiten und das Kratzen eines Stiftes auf Papier.
Nathans Anspannung wuchs. Weshalb dauerte das so lange? Lag es womöglich an dem Titel, den er bestellt hatte? Das Buch von Lewis Caroll war mit Sicherheit eines der wertvollsten Werke, das die Bibliothek zu bieten hatte.
In diesem Moment öffnete sich eine Tür. Ungeduldig blickte er zu dem Mädchen, das in den Saal trat und sich suchend umblickte. Er erkannte sie sofort. Sie kniff ihre Augen leicht zusammen. Das gab ihr wieder dieses hilflose Aussehen, das in völligem Widerspruch zu dem Ausdruck ihrer grauen Augen vom gestrigen Tag stand.
Sie ging zu der Tür eines kleinen Aufzugs und schloss sie auf. Trotz ihrer Jugend schien sie genau zu wissen, was sie tat. Sie entnahm dem Aufzug das Buch, das er verlangt hatte. Es war noch einmal verpackt, denn er konnte den Einband nicht erkennen.
Das Mädchen ging mit dem sorgfältig verschnürten Paket zum Empfang. Nach einem kurzen Wortwechsel mit ihrer Kollegin kam sie zu ihm.
Sie legte das Paket vor ihm ab und sah ihn an. Er bemerkte das Aufflackern des Erkennens in ihrem Blick. Diese grauen Augen, in denen winzige silberne Pünktchen tanzten, waren von Nahem noch faszinierender als von Weitem. Nathan blickte sie finster an. Da war ganz und gar nichts Hilfloses, befand er noch einmal.
»Mein Name ist Lucy«, stellte sie sich vor und Nathan fand, dass der Name perfekt zu ihr passte. »Ich vertrete die Archivarin. Sie wollten bereits gestern kommen, Mr. de Tremaine«, sagte sie vorwurfsvoll. »Miss Olive war ein wenig ärgerlich.«
»Wo ist diese Miss Olive heute?«, fragte er knapp, ohne auf den Vorwurf einzugehen.
»Sie hatte gestern ihren letzten Arbeitstag. Sie hat einen längeren Urlaub angetreten. Ich werde sie in dieser Zeit vertreten.«
Nathan musterte Lucy mit einem kalten spöttischen Lächeln. »Sind Sie nicht etwas zu jung für so eine verantwortungsvolle Aufgabe?«
»Das wird sich herausstellen«, erwiderte Lucy schlagfertig. »Aber sollten Sie zukünftig Bücher vorbestellen, bitte ich Sie, auch zu dem vereinbarten Termin zu kommen. Ansonsten werde ich das Buch nicht ausleihen«, sagte sie streng.
Nathan wollte etwas erwidern, überlegte es sich aber im letzten Moment.
Dann konzentrierte sie sich auf das Buch.
»Wir werden das Paket gemeinsam öffnen«, begann sie und Nathan wandte seinen Blick ihren
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