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Bordeuax

Bordeuax

Titel: Bordeuax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Torday
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Arm fing an weh zu tun,
die Tasche wurde schwer. Ich nahm sie in die linke Hand und ging weiter.
    Dann sah ich, dass sich der
Kanaldeckel vor mir drehte. Er wurde von unten hochgestemmt und zur Seite
gedrückt, und nach einer Pause kletterten zwei Kinder auf die Straße und
blickten sich um. Sie waren in Lumpen gekleidet und sehr schmutzig. Eines der
Kinder entdeckte mich, drehte sich um, fluchtbereit, doch dann mussten sie
entschieden haben, dass ich ungefährlich war, denn sie näherten sich mir und
sprachen mich mit schmeichelnder Stimme in ihrem unverständlichen Patois aus
Indianisch und Spanisch an.
    Natürlich wollten sie Geld. Ich
stellte mein Gepäck ab und kramte in der Manteltasche nach ein paar kleinen
Scheinen oder Münzen.
    Gerade hatte ich eine Handvoll
Kleingeld aus der Tasche gefischt, sah eines der Kinder hinter mich und wurde
steif vor Schreck. In diesem Moment der Stille, bevor die Kinder erneut anfingen
zu reden, spürte ich wieder diesen spezifischen Geruch in der Nase, den Geruch
von Schimmel und Fäulnis. Die Kinder, aufgescheucht durch das, was hinter mir
näher rückte, riefen etwas und liefen davon. Ich sah ihnen hinterher. Dann
schaute ich hoch zum Himmel, ob noch Sterne zu erkennen waren. Früher mal, sehr
lange her, war die Nacht voller Sterne gewesen. Jetzt konnte ich keinen
einzigen mehr sehen. Ein dunkler und regenschwerer Himmel drückte mich nieder.
    Ich konnte es nicht länger
aufschieben. Ich wollte mich nicht umdrehen, aber ich musste es tun.
    Er stand nicht weit von mir
entfernt, unter der Leuchttafel, über die immer noch die Buchstaben DNIDMFDDWF ... DNIDMFD DWF ... flimmerten, als wollte er aufmerksam machen auf diese
wichtige Botschaft seiner Sponsoren. Er trug, so wie ich ihn flüchtig im
Krankenhaus und Tausende Male zuvor in meinen Träumen gesehen hatte, die
Kleidung, die er immer trug, ausgebeulte Strickjacke, kariertes Hemd und
verblichene Cordhose. Das Haar war zurückgekämmt, aber es war nicht mehr grau,
mit schwarzen Strähnen, wie ich es in Erinnerung hatte, sondern klebte an
seinem Schädel wie Baumwollbüschel. Er war dünn, schrecklich dünn. Sein Gesicht
blieb mir durch Schatten verborgen, aber das, was ich sehen konnte, war
trostlos. In der Finsternis bildete ich mir ein, Augen zu erkennen, die auf dem
Grund der Augenhöhlen schimmerten, und über die Zähne spannten sich blutleere
Lippen, als er mir zulächelte. Heiser flüsterte er: »Wilberforce ...« - ein
verzweifelter Seufzer über vergangene Zeiten, als wir Freunde fürs Leben waren,
über all den Wein, der in der Gruft zu Essig geronnen war. Seine Stimme war das
Echo aller traurigsten Erinnerungen meines Lebens, aller Liebe, die ich je
gefunden geglaubt und wieder verloren hatte. Es war die Stimme, an die ich mich
gut erinnerte, die Stimme von Francis Black, die zu mir sprach, als er auf dem
Sterbebett lag, eine vertraute Stimme, eine Stimme, die mir viele Male im
Schlaf ins Ohr geflüstert hatte.
    Eine knochige Hand wurde nach mir
ausgestreckt, winkte mich zu sich heran. Da wusste ich, dass es nicht Francis
war, der mir gefolgt war. Vielmehr war ich es, der ihm folgte. Ich hatte ihn
im Tod ausfindig gemacht, so wie ich ihn ausfindig gemacht hatte, als er lebte.
Ob er den Arm um meine Schulter legen und mich heute Abend zu meinem Grab
führen würde, ob es morgen Abend sein würde, ob übermorgen, das vermochte ich
nicht zu sagen. Es würde bald geschehen, und nur darauf kam es an. Während
Francis unter den flackernden Leuchtzeichen stand, sah ich deutlich mein
Schicksal vor mir. Beide Arme streckte er mir entgegen - ein Bild, das daran
erinnerte, wie er vor langer Zeit mit ausgebreiteten Armen in der Gruft stand,
als wollte er das ganze Weinlager umarmen, den Schatz, den er mir zu Füßen
legte. Es war eine betörende Geste, die viel versprach, nichts anbot. Sehr
bald schon würde er mich in seine Arme schließen.
     
    2004
     
    1
     
    Catherine schenkte mir das
Porträtfoto kurz vor unserer Hochzeit. »Das wurde aufgenommen, als ich noch
jung und schön war«, sagte sie. Sie lachte dabei, ihre Augen tanzten, wollten
mich zu einem Kompliment verführen.
    Sie sah tausendmal schöner aus als
auf dem Foto, und ich sagte es ihr.
    »Du liebst mich wirklich, oder?«,
fragte sie, atemlos, denn ich hielt sie eng umschlungen. »Natürlich.«
    »Es ist schwer zu erraten, weil du
nie den Mund aufmachst.«
    Ich ließ sie los. »Das habe ich
verlernt. Ich kannte jahrelang nur Arbeit, Arbeit, kein

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