Bordeuax
und
nicht anders eingerichtet ist. Meine Pflegemutter konnte keine Kinder bekommen,
und sie ließ meinem Pflegevater so lange keine Ruhe mit einer Adoption, bis er
klein beigab und sie gewähren ließ.
»Er war ein bisschen unnahbar.«
»Und deine Pflegemutter?«
»Die war sehr still. Sie hat viel
ferngesehen.«
Es stimmte. Meine Pflegemutter hatte
sich sehr früh von der Illusion verabschiedet, eigene Kinder zu haben -
jedenfalls solange ich zurückdenken kann. Sie schien immer in einer anderen
Welt zu leben, saß vor dem Fernseher oder las Romane von Catherine Cookson. Ich
weiß nicht, wie sie ihre Zeit verbracht hat, bevor sie einen eigenen Fernseher
besaß, wahrscheinlich vor der Wäscheschleuder.
»Das klingt nach einer schrecklich
einsamen Kindheit, Wilberforce. War es so?«
»Muss wohl«, sagte ich. »Aber ich
kannte ja nichts anderes.«
Das Essen kam, ich brauchte mich
also nicht weiter über meine Kindheit auszulassen, ein Thema, das mir immer
Unbehagen bereitet bei den seltenen Gelegenheiten, wenn mich jemand danach
fragt. Die Vergangenheit war gut abgeschirmt. Meine Kindheit war irgendwo tief
in mir drin fest eingemauert.
Catherine probierte ihren ersten
Happen Chicken Balti. »Mmh«, sagte sie. »Das ist total köstlich. Oh, Hilfe, gib
mir etwas Wasser.«
Catherine war ganz in Anspruch
genommen von dem Essen. Sie aß mit Lust, und ich sah ihr dabei zu.
»Wenn ich in der Nähe wohnen würde«,
sagte sie zwischen zwei Bissen, »würde ich jeden Abend hier essen.«
»Hast du noch nie indisch gegessen?«
»Nicht so oft. Ed mag italienisches
Essen. Aber eigentlich geht er überhaupt nicht gerne aus. Er sitzt lieber ganze
Nächte durch mit möglichst vielen Freunden zusammen in kalten Esszimmern. Die
Männer alle in schönen warmen Hausjacken, und die Frauen in ihren Kleidchen
sollen sich zu Tode frieren. Das ist ganz nach Eds Geschmack.« Sie schaute von
ihrem Teller auf und sah mich mit dem fragenden Blick an, der mir schon vorher
an ihr aufgefallen war, als sähe sie mich zum ersten Mal.
Ecks Bemerkung von heute Nachmittag
fiel mir wieder ein. Ed und Catherine waren, soweit ich wusste, verlobt. Jetzt
sprach sie über ihn wie über einen vertrauten Gegenstand, einen schwarzen
Labradorhund, der sich nicht erwartungsgemäß entwickelt hatte.
»Und wieso bist du Computerfachmann
geworden?«, fragte Catherine. »Ed sagt, du wärst ein richtiges Computergenie.«
»Ich war schon auf der Schule gut in
Rechnen«, sagte ich. »Zahlen sind für mich wie eine Landschaft. Ich kann
Zahlenmuster erkennen, wo andere keine sehen oder erst nach längerer Zeit.
Damit landet man automatisch bei der Softwareentwicklung. Es ist eine
Zahlensprache. Und ich beherrsche sie zufällig ganz gut.« Es war eine
Landschaft, die ich seit sehr langer Zeit bewohnte.
Ich merkte, dass Catherine
eigentlich nicht verstand, was ich ihr zu erklären versuchte, aber meine
Antwort hatte sie neugierig gemacht. »Es muss großartig sein, wenn man eine
Sache richtig gut beherrscht«, sagte sie. »Ich kenne sonst keinen, der auch nur
irgendetwas richtig gut kann, und wenn doch, würde er es niemals zugeben.«
Nach einiger Zeit ließ Catherines
Appetit nach, schließlich legte sie die Gabel beiseite und stieß einen
komischen kleinen Stoßseufzer aus: »Ich kann nicht mehr. Ich habe es versucht,
und es schmeckt wunderbar, aber noch ein Bissen, und ich platze.«
»Das war nur der erste Gang«, sagte
ich.
Sie sah mich ungläubig an, dann
lachte sie laut auf. »Mach nicht solche Witze mit mir, Wilberforce! Im ersten
Moment war ich wirklich erschrocken.«
»Indisches Essen isst man nicht ganz
auf«, beruhigte ich sie. »Das ist Sinn und Zweck der Sache. Immer wird ein
klein bisschen mehr aufgetragen, als man bewältigen kann.«
Ich ließ ein paar Minuten
verstreichen, dann fragte ich sie: »Ist alles in Ordnung zwischen dir und Ed?«
»Natürlich. Warum fragst du?«
Ich schüttelte den Kopf, bereute
meine Frage umgehend. »Ich weiß auch nicht. Nur so, um was zu sagen. Es geht
mich eigentlich nichts an.«
»Die Worte >in Ordnung<
treffen meine Beziehung zu Ed sehr genau«, sagte Catherine mit einem Mal ganz
ernst. »Wir sind schon so lange zusammen, dass ich gar nichts anderes mehr
kenne. Wenn ich je mit einem anderen Mann zusammen war, dann ist das so lange
her, dass ich mich nicht mal mehr an seinen Namen erinnern könnte.«
»Warum heiratet ihr nicht?«
»Irgendwann werden wir bestimmt
heiraten. Wir müssen uns nur zuerst
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