Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
strauchelte und fiel zu Boden. Der Fahrer hatte sich mittlerweile befreien können und lief die Straße hinunter, fünf Leute hinter ihm her.
Der Typ rannte in einen Imbiss. Wir blockierten den Eingang, den der Besitzer mittlerweile verschlossen hatte. Wir schrien, traten gegen die Tür. Stühle flogen gegen die Fenster. Jemand musste uns stoppen, bevor es Tote gab. Tote!
Weshalb auch immer: Plötzlich konnte ich klar sehen, konnte uns als das sehen, was wir waren – eine wie besinnungslos prügelnde Meute. Dann wusste ich, was ich tun musste.
»Okay, Jungs«, rief ich. »Lasst gut sein.« Wie damals Ümet bei meiner ersten Schlägerei. Ümet hatte die Größe zu wissen, wann die Grenze überschritten war. Ein guter Mann weiß, wann es Zeit ist aufzuhören. Wenn ich es bisher noch nicht gewusst hatte, an diesem Tag hatte ich es gelernt. Endlich wusste ich, wo meine Grenzen waren.
Die Meute ließ ab, hörte auf mich. Wir liefen zurück zum Auto. Dort stand einer der Schläger, umringt von vier Champs. Er hatte die Fäuste zur Deckung gehoben.
»Lasst ihn in Ruhe!«, schrie ich. »Der scheißt sich doch eh in die Hosen.«
Doch Markus war damit gar nicht einverstanden. »Hau ihn wech, Aller! Hau ihn wech! Oder soll ich? Ich mach den platt!«
Mir aber war nicht mehr nach diesem Wahnsinn. Ich war auch nicht mehr wütend. Sie war weg, die Wut. Was war das eigentlich, was wir hier abzogen?
»Wozu?«, rief ich.
Markus hörte mich nicht. Er war im Rausch. Er stapfte auf den Typen zu. Das gibt Blut, dachte ich nur und griff nach seiner Jacke, riss ihn zurück.
»Ich will das nicht«, schrie ich Markus an. »Ich will das nicht. Verstanden?«
Der große Markus schaute mich überrascht an. Die anderen blickten mich an, fragend, überrascht, selbst der Schläger. Alle warteten auf eine Antwort. Ich lief los, allein mit meinen Gedanken, allein mit mir. Ich fühlte mich gut.
Als ich weg war, drehte Markus völlig durch, wie ich später erfuhr. Auf dem Rückweg haute er sich ein paar Bier rein. Dann begann er Autos umzuschmeißen – wie ein wütender Hulk. Er war außer Rand und Band, niemand konnte ihn stoppen. Es war der gleiche Wahnsinn, der auch Fritz, Claudia und so viele andere von uns schon zerrissen hatte und den niemand stoppen konnte. Die selbstzerstörerische Kraft, die in ihnen wohnte, hatte sich ihren Weg gebahnt und ihre Seelen gefressen.
Fritz’ Niedergang hatte ich begleitet. Ich hatte immer wieder versucht, ihn zurückzuhalten, aber seine dunkle Kraft war am Ende stärker als ich. Es war unmöglich für mich, ihn zu retten. Er hätte sich nur selbst retten können. Er war ein guter Freund, der beste, den ich je hatte. Wir hatten gemeinsam einen Traum. Den Traum, richtige Männer zu werden. Den Traum, mutig zu sein. Aber muss man für diesen Traum so weit gehen? Muss man für seine Träume sein Leben ruinieren?
Bei Claudia hätte ich nie gedacht, dass es sie erwischt. Sie war für mich vom ersten Augenblick an stark, selbstsicher und schön gewesen. Heute weiß ich, dass ich irgendetwas übersehen haben muss. Vielleicht konnte ich ihre dunkle Seite nicht erkennen, weil ich sie liebte. In meinen Erinnerungen ist sie bis heute die Frau, die mich vom ersten Augenblick an in ihren Bann geschlagen hat.
Ich frage mich häufig, warum hat es mich nicht erwischt? Warum bin ich noch mal davongekommen? Vielleicht war ich stärker, vielleicht hatte ich mehr Selbstdisziplin und einen ausgeprägten Willen. Vielleicht waren es auch meine Träume, die mich auf einen besseren Weg gebracht haben? Vielleicht hat das Kung-Fu mir geholfen und Bruce Lees Geist? Das wäre ein schönes Happy End. Aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.
Ich wollte raus. Ich wollte ein anderes Leben. Es kann helfen, wenn man weiß, was man nicht mehr will. Man braucht eine Vorstellung davon, wie ein anderes Leben aussehen könnte. Dann muss man es anpacken wie ein Mann! Seine Grenzen zu kennen und Unmögliches möglich zu machen, das steht nicht im Widerspruch zueinander. Sich ausprobieren, Geduld haben, sich nicht umwerfen lassen, bis man diesen Weg gefunden hat.
Ein kluger Mann hat einmal gesagt: »Man kann hinfallen, man muss nur immer wieder aufstehen.« Das ist richtig.
Ich sage: Man muss hungrig sein und hungrig bleiben, sein ganzes Leben lang. Man muss lieben können, leidenschaftlich lieben können. Wer liebt, der lebt. So ist es. Ich liebe mein Leben. Ich liebe St. Pauli. Ich liebe meine Jugend. Denn sie hat mich zu
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