Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
dem Holzfußboden und unter den Rauchschwaden herum, von der Jukebox bis hinter den Tresen und zurück. Alle kannten mich. Ich war eine Berühmtheit auf’m Kiez.
Joschi kellnerierte im Voss, Kalle kellnerierte dort, und meine Mutter, die kellnerierte dort, glaube ich, auch. Sie war jedenfalls immer im Betten Voss. Kalle war der stärkste von allen Kellnern. Wenn der wütend war, dann konnte er in kürzester Zeit (er hatte es wohl auch immer eilig – aus Karrieregründen), den ganzen Laden kurz und klein hauen. Das ging ganz schnell und wech damit. Dann sagte keiner mehr was. Für Widerworte gab’s was aufs Maul. Ganz direkt. Und weil meine Mutter sich beschützt fühlen wollte, verliebte sie sich in den starken Kalle. Mein neuer Vater war nicht besonders groß, 1,75 nur. Aber er war schnell mit den Fäusten, ein ehemaliger Boxer ohne Angst und manchmal auch ohne Selbstkontrolle. Ein Straßenkeiler und Einzelkämpfer aus Passion. Ein sportlicher Showtyp, der sich nach außen immer lustig gab. Aber Kalle war auch jähzornig, er hatte eine ständige Wut auf die Welt. Es brodelte in ihm, da war irgendwas mit seiner Hormon-Adrenalin-Mischung nicht in Ordnung. Die Mischung war gefährlicher als Nitroglyzerin. Kalle war ein Kind des Krieges. Aufgewachsen zwischen Lügen, Selbstbetrug, Tod und Zerstörung, aufgebracht von einer kalten, gewaltbereiten, dem Untergang geweihten Gesellschaft. Friss oder stirb! Kämpf oder stirb! Kalle lebte, wie er es von klein auf gelernt hatte. Mit Gewalt kannte sich Kalle aus – er war ein starker Krieger! Gegen alle!
Irgendwann verließen meine Mutter und ich den Untergrund im Budapester Hof und wir zogen in die Hein-Hoyer-Straße. Zunächst wohnten wir dort zusammen mit Picco und einer Bardame aus einer Oben-ohne-Bar. Picco war ein lustiger Mitbewohner. Er konnte die Stimme von Mickymaus nachmachen und brachte mich immer zum Lachen. Viel, viel später schrieb man auf St. Pauli sogar ein Musical über ihn.
Um ihren Kalle öfter sehen zu können, arbeitete meine Mutter im Betten Voss immer in derselben Schicht wie er. Das klappte so gut, dass beide beschlossen zusammenzuziehen.
Kalle, meine Mutter und ich zogen also in den Alten Steinweg 25. Unser Haus befand sich direkt am Großneumarkt, wo Pimmel (er hieß so, weil er, wenn er besoffen war – also immer – seinen Pimmel rausholte) den »Anker« hatte. Damals war es noch eine richtige Hafengegend. Dort trieben sich Hafenarbeiter, Seeleute und Ganoven herum. Es wurde getanzt, gelacht, geschrien, geliebt und geschlagen, wild und heftig. Nur eins tat man nicht: die Polizei rufen. »Das macht man nicht!«, erklärte mir meine Mutter. Nur einmal erlebte ich, dass jemand sich freiwillig an die Polizei wandte. Komischerweise war es meine Mutter. Eines Abends kam Kalle nach Hause. Er war sauer, er war im Krieg, so wie immer. Er brodelte, er explodierte. Er schlug die Küche in alle Einzelteile, schnell und akkurat. Mann, war der stark. Meine Mutter liebte Kalles Stärke, aber in diesem Moment war sie ihr wohl nicht ganz geheuer. Denn sie packte mich und lief im Pyjama mit mir hinüber zur Wache am Großneumarkt.
»Na, der beruhigt sich schon wieder«, raunte der massige Polizist auf der Wache meiner aufgebrachten Mutter entgegen. »Sollen wir mal mit rüberkommen?« Es waren andere Zeiten. Die Atmosphäre war etwas rauher, in den Kneipen und zu Hause. Frauen wurden ab und an geschlagen. Es war eine Zeit, in der Körperlichkeit und Kraft für die Männer noch eine ganz andere Bedeutung hatten. Vor allem auf St. Pauli.
Als wir schließlich mitsamt der Polizei in der Wohnung ankamen, lag Kalle im Bett und machte ’n Nickerchen. »Sehen Sie«, sagte der Beamte, »kein Grund zur Sorge. Ist doch alles im Lack.« Für mich hatte die ganze Geschichte vor allem Auswirkungen auf meinen Wortschatz. Immer dann, wenn Kalle mal wieder laut wurde, rief ich: »Ich polimonier die Polizei.« Das sollte heißen: »Ich rufe die Polizei.«
So entwickelte ich schon früh einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, der für das Leben auf St. Pauli angemessen war.
3 Ich pass nicht in meine Cousine rein!
D er Budapester Hof hat mich nie richtig losgelassen. Als Kind spielte ich dort jeden Tag in den Gängen und Zimmern, deren Türen offen standen wie die Türchen an einem alten Adventskalender. Meine Oma lebte im Hotel. Sie war die Seele unserer Familie, eine starke, großherzige, lustige, lebenstüchtige Frau, die noch ihr letztes Hemd hergegeben
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